Page 135 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 123
In Wahrheit behaupten sich jedoch das Denken und das Gegen-
ständliche neben einander als zwei sich wechselweise bedingende und
bestimmende Factoren, die sich von vom herein dadurch unter-
scheiden, dass es dem Denken eigenthümlich ist, in Einzelbestimmungen
zu Tage zu treten, während das gegenständlich Bestehende sich in
der Gesammtheit der Einzeldinge darbietet, von welchen jedes der
Träger eines Vereins zusammengehöriger Einzelbestimmungen ist.
Demzufolge hat die Wissenschaft vom Denken die Aufgabe, die
in Eiiizelbestimmungen zu Tage tretenden Bestätigungsweisen oder
Formen des Denkens zu untersuchen. Diese Untersuchung wird an
Gegenständen geführt. Denn das Denken ist nicht als reine Thätig-
keit erfassbar, sondern kann nur in den Bestimmungen der Denkakte
offenbar werden, und diese Bestimmungen bestehen gegenständlich.
Die Gegenstände der Untersuchung sind jedoch nicht die Einzeldinge,
obwohl sie — wie es nicht anders sein kann — an denselben nach-
weisbar sind. Die Einzeldinge kommen nämlich nicht so, wie sie
sind, sondern nur sofern sie mit dieser oder jener Bestimmung be-
haftet sind, unter Absehen von allen anderen Bestimmungen, in
Betracht. Sie gewinnen darum bloß als Unterlage des Abstractions-
processes, der gewisse bislang unbemerkt gebliebene Bestimmungen
aufzufinden und festzustellen gestattet, oder beim Nachweis des Um-
fangs, in welchem eine vorliegende Bestimmung in der gegenständlich
bestehenden Welt zur Geltung kommt, eine Bedeutung.
Die Untersuchungsgegenstände selbst sind aber nichts anderes als
die Träger der Bestimmungen, in denen die untersuchte Form des
Denkens offenbar wird. Als solche sind sie keine, in selbständiger
Wirklichkeit gegebenen Dinge; auch bedürfen sie nicht des Nach-
weises, dass sie an diesen Dingen thatsächHch Bestand haben. Sie
beruhen vielmehr auf der Wirklichkeit des Denkens, und ihre Existenz
ist, ohne dass sie bewiesen werden müsste, von vornherein gewiss, da
von einer bestimmten Form des Denkens gar nicht geredet werden
könnte, wenn sie nicht an einem gegenständlichen Träger zur Aus-
gestaltung käme.
Der Satz »jede Denkform besitzt ihren gegenständlichen
Träger, an dem sie zur Ausgestaltung kommt« hat darum als
Grundsatz für die Lehre vom Denken zu gelten.
Die Wissenschaft vom gegenständHch Bestehenden liingegen hat