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2 OSTSEE−ZEITUNG BLICK IN DIE ZEIT Donnerstag, 19. Januar 2017
MLEITARTIKELM
Von Dieter Wonka
Ein Mann, der die Dinge
beim Namen nennt
oachim Gauck hat einiges bewegt in seiner Zeit als Bun-
despräsident. Erst verhalf er Angela Merkel trotz großer
Kandidaten-Not zu einer überraschenden Sympathie-
JAllianz für seine Wahl. Dann tilgte er souverän die un-
angenehmen Spuren, die die Vorgänger Horst Köhler und
Christian Wulff hinterlassen hatten. Schließlich schaffte er es,
zu einem politisch wahrnehmbaren Präsidenten zu werden.
In den USA weinte er vor Rührung, zu Russlands Staatschef
Wladimir Putin fuhr er gar nicht erst und in der Türkei sprach
er unbequeme Wahrheiten erfrischend deutlich aus. Am En-
de brachte er auch noch die Größe auf, nach fünf Jahren zu
gehen. Rechtzeitig genug, ehe es zu vielen zu viel wurde.
Sogar den großen Ruck gab es in der Ära Gauck. Aber
nicht durch seine vielen Reden, auch nicht durch die letzte
„große“ im Bellevue. Für Unruhe und Bewegung sorgen eher
die anderen, die Schwätzer, Fälscher und Vereinfacher. An
ihnen reibt sich dieser Bundespräsident mit einer Inbrunst,
für die allein ihm der höchste Orden der Republik verliehen
werden müsste – wenn er diesen nicht schon qua Amtes be-
säße.
Der durchtriebene AfD-Provokateur Björn Höcke ist einer
von denen, die Demokratie als Selbstbedienungsladen miss-
brauchen. Er verhöhnt das Gedenken an Millionen Opfer der
Zwölf Menschen starben, als der Attentäter den
Lkw über den Breitscheidplatz in Berlin lenkte
Schuldig macht sich, (oben). Unter den Opfern: Die 31-jährige Fabri-
wer nur zusieht. Das ist Gaucks zia di Lorenzo aus Italien, deren Eltern sie in
einer öffentlichen Zeremonie in ihrem Heimatort
unbequemes Fazit. beisetzten (links). FOTOS: IMAGO, DPA
Nazi-Gräuel als Schwäche der Demokratie. Auch wegen sol-
cher Hetze im Siegestaumel zweistelliger Umfragewerte und
eines gescheiterten NPD-Verbots werden anständige Gesin- Das leise
nungspropagandisten wie Gauck gebraucht. Demokratie ist
nicht mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattet. Schuldig
macht sich, wer nur zusieht.
Das ist Gaucks unbequemes Fazit. Zwischendurch brachte
ihm dieses Denken den Vorwurf des Kriegstreibers ein. Einer,
der kräftig austeilt, muss demokratisch gesittet auch damit
leben. Die These vom „Dunkeldeutschland“ war auch nicht Von Jan Sternberg Leiden
sehr hilfreich. Deutschland hat sich verändert, aber nicht we-
gen Gauck. Immerhin ist das scheidende Staatsoberhaupt ls das Licht im Saal aus-
einer, der die Dinge beim Namen nennt, der sich nicht für un- ging und die Show be-
ersetzlich hält und der an eine gute Zukunft glaubt. gann, kam die Angst.
Mit seiner Abschiedsrede hat Joachim Gauck der Kanzle- Hunderte Menschen in
rin einen Auftrag für die politische Praxis mitgegeben. Ge- einem geschlossenen
fragt seien Impulse zum Mitmachen. Man müsse überall für te Menschen, unbewacht, vollkom- der Opfer
A Raum: Welch ein leich-
seine Thesen streiten, nicht nur im Zwiegespräch mit dem tes Ziel sie doch wären, dachten Ka-
CSU-Chef. Leider fiel dem Bundespräsidenten auch gestern talina und Max Müller nur. Hunder-
nichts dazu ein, wie wichtig soziale Gerechtigkeit ist, gerade
auch dann, wenn man wie er propagiert, dass ohne Freiheit men schutzlos.
alles nichts ist. Für den Pastor aus der ehemaligen DDR ist die Es war ein Tag Anfang Januar.
Freiheit bis heute ein täglich neu als Geschenk empfundener Mit einem Ausflug nach Köln, zum
Wert. Anderen geht diese scheinbar immer gleiche Litanei Musical „Bodyguard“, wollten sich Heute gedenkt der Bundestag der Opfer des
mächtig auf die Nerven. Umso wichtiger ist es, dass Gauck die beiden Berliner eigentlich ab-
stur sein Credo von der Mitmach-Gesellschaft predigte. lenken von dem, was sie zwei Wo- Anschlags von Berlin – viel zu spät, beklagen
chen zuvor in ihrer Heimatstadt auf
dem Breitscheidplatz erlebt hatten. Hinterbliebene. Fehlt Deutschland eine staatliche
Aber Entspannung wollte sich nicht
MSPEAKERS’ CORNERM einstellen, die Müllers schreckten Trauerkultur? Und was hilft Angehörigen wirklich?
immer wieder hoch. Wenn hinter ih-
nen jemand aufstand. Wenn eine
Tür ins Schloss fiel. Der Schaustellerverband und die
„Da merkten wir, dass wir den 19. Gemeinde der Gedächtniskirche
Dezember wohl noch lange mit uns haben ihnen Hilfe angeboten: Seel-
herumtragen werden“, sagt Max sorger und Psychologen, die sich um
Müller heute. sie kümmern. „Ich denke, dass wir
Als der Attentäter Anis Amri an das in Anspruch nehmen werden“,
Von Lamya Kaddor jenem Tag am Steuer des gestohle- sagt Max Müller. Er ahnt, dass sie es
nen polnischen Sattelschleppers auf brauchen werden.
den Platz raste, verkaufte Katalina
Das T-Shirt-Paradoxon Müller gerade Glühwein in ihrer Immer ging es nur um Anis Amri
Die Angehörigen, die Opfer, die
Bude. Max stand genau davor. Der
25-Jährige ist Schausteller, in sechs- Zeugen des Anschlags vom Breit-
„Refugees welcome“ – „Flüchtlinge willkommen“. Mit dieser ter Generation. Von Frühjahr bis scheidplatz haben das Gefühl, dass
Aussage auf der Bekleidung gibt es keinen Einlass in den Herbst zieht er mit der Berg-und- es in Deutschland lange nicht um sie
Deutschen Bundestag. So geschehen jüngst in Berlin. Eine Talbahn „Melodie Star“ und dem ging. Immer nur um Anis Amri. Um
13-jährige Schülerin wurde aufgefordert, ihren Kapuzenpulli Polypen „XXL-Krake“ über Märkte die Polizei und mögliche Fehler.
mit der menschenfreundlichen, diskriminierungsfreien, offe- in ganz Deutschland. Im Advent Ich bin Und um Politik, um klug daherre-
nen Botschaft zu verdecken. Andernfalls müsse sie draußen baut er den „Glühweinstall“ auf und dende Leute, die sich in den Talk-
bleiben. Der Bundestag handelt nach der Vorgabe, Besucher daneben die Grillbude für „Müllers einfach shows streiten.
haben sich politisch neutral zu verhalten. So weit, so gut. Meisterbratwurst“. Auf dem Breit- losgerannt, Heute wird es im Bundestag eine
Eine nachvollziehbare Haltung. scheidplatz waren dies die dritte Gedenkminute geben für die Opfer
Aber welche politische Einstellung vertritt jemand, der und vierte Bude, die der Lastwagen Zerstört: Der Stand von Max Müller ohne nach- des Anschlags. Bundestagspräsi-
Flüchtlinge willkommen heißt? erwischte. auf dem Breitscheidplatz. FOTO: PRIVAT zudenken. dent Norbert Lammert wird eine Re-
Oder ist Flüchtling sein etwas Politisches, so wie rechtsra- Die Bratwurstbude wurde kom- de halten, die Abgeordneten wer-
dikal sein, anarchistisch sein, sozialdemokratisch, christde- plett zerstört. Auch die Glühwein- versehrt geblieben. Sie gehören den sich erheben. Erst heute, einen
mokratisch etc.? Ist ein Flüchtling nicht erst mal jemand, der bude traf der Laster, sie knickte ein, nicht zu den zwölf Menschen, die an Max Müller, Monat nach der Tat? Vielen er-
von seinem angestammten Wohnort flieht? Wenn ich mir brach aber nicht zusammen. Katali- diesem Tag starben. Nicht zu den Standbetreiber auf scheint dies spät, nicht nur den Mül-
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ aufs Shirt schreibe, na ließ ihre Handtasche stehen und mehr als 50 Verletzten. Nicht zu den dem Breitscheidplatz lers. „Ich finde die mangelnde Be-
darf ich dann auch nicht in den Bundestag? rannte. Direkt vor Max Müller zog elf Männern und Frauen, die noch achtung vonseiten des Staates trau-
Wäre einen Test wert. Denn nichts Geringeres als unser der Lastwagen nach links, verfehlte immer im Krankenhaus behandelt rig und unwürdig“, diktierte Petra
Grundgesetz, das Fundament des Bundestags, besagt dies. ihn um Zentimeter. „Ich bin einfach werden. Aber auch sie werden mit K. Berliner Journalisten in den
Die 13-jährige Schülerin hat also nichts anderes geäußert als losgerannt, ohne nachzudenken, den Folgen dieses Anschlags leben Block. Ihr Lebensgefährte wurde
ein Bekenntnis zu unserer Verfassung. Artikel 16a heißt poli- was da gerade passiert ist“, sagt der müssen. Mit den Bildern von zer- bei dem Anschlag lebensgefährlich
tisch Verfolgte willkommen und signalisiert ihnen damit, schmale, hochgewachsene Mann schmetterten Körpern, von Blut auf verletzt. „Für uns“, sagt sie, „wird es
dass ihnen in Deutschland geholfen wird. mit den kurzen Haaren. Asphalt, mit den Schreien der Opfer, Normalität nie wieder geben.“
Wie kommt es also dazu, dass „refugees welcome“ als lin- Erst später wurde ihm klar, dass die sich in ihre Erinnerung gebrannt Ist der Vorwurf berechtigt? Fehlt
ke, politische Parole eingestuft wird? Weil Linksradikale die es sehr, sehr knapp war. Dass er und haben. es in Deutschland an einer staatli-
Aussage gekapert haben, vor allem aber weil Rechtspopulis- seine Frau diesen Tag beinahe nicht Der materielle Schaden der Mül- chen Trauerkultur? Tatsächlich ging
ten stetig an Einfluss gewinnen. Seien wir auf der Hut. Bis an überlebt hätten. lers lässt sich beziffern: 80 000 Euro es in der öffentlichen Diskussion
die Pforte des Bundestags haben sie es schon geschafft. Katalina und Max Müller hatten, für die zerstörten Buden. Aber das lange sehr ausführlich um den Tä-
so könnte man sagen, Glück. Kör- ist es nicht, was sie im Moment vor ter, um seinen Weg, seine Kindheit
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin und Autorin. perlich sind sie an diesem Tag un- allem kümmert. in Tunesien, die Fehler der Behör-