Page 2 - Nordkurier (+19.01.2017)
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Seite 2 Thema des Tages Donnerstag, 19. Januar 2017
Bei seinem letzten großen Auftritt im Schloss Bellevue hatte der scheidende Bundespräsident diese Botschaft: „Wenn ich mich nun frage, was das Wichtigste ist, das wir unseren Kindern und
Kindeskindern mit auf den Weg geben, so ist es für mich vor allem eine Haltung: Es ist das Vertrauen zu uns selbst, das Vertrauen in die eigenen Kräfte.“ FOTO: MICHAEL KAPPELER
Eine Bilanz nach fünf Jahren
Joachim Gauck
Der Bundespräsident schaute in seiner Rede nicht zurück, sondern lieber nach vorn. Er sieht die
liberale Demokratie in Gefahr und hält ein Gegenmittel parat.
Alle hören sie ihm zu, notwendig sein werden, um Namen er nicht nennt. „Die diesem Tag aber etwas ande- Kindeskindern mit auf den
Analyse Bundestagspräsident Norbert es für die Zukunft stark zu liberale Demokratie und das res. Eindringlich fordert er Weg geben, so ist es für mich
Lammert, SPD- Fraktions- machen.“ politische und normative Pro- eine neue und robustere De- vor allem eine Haltung: Es ist
chef Thomas Oppermann, Während der schwungvol- jekt des Westens – sie stehen battenkultur in Deutschland. das Vertrauen zu uns selbst,
Verlegerin Friede Springer, len musikalischen Eröffnung unter Beschuss.“ Sein Rezept: „Heftig streiten, das Vertrauen in die eigenen
Von Thomas Lanig
Minister, Chefredakteure, der durch das Ensemble Olivinn aber mit Respekt und mit di- Kräfte.“ Langer Applaus.
BERLIN. Von Abschied spricht scheidende US-Botschafter und den bekannten Jazz- Die Deutschen sollen ckem Fell.“ Mit Blick auf die Als Gauck 2012 als Bun-
er nicht, auch nicht von sei- John Emerson, Weggefähr- posaunisten Nils Landgren sich ruhig mal zoffen AfD und andere Populisten despräsident antrat, nach
nem Vermächtnis. Und Weh- ten und Künstler, auch Wolf werden Schlagzeilen an die Diese Rede ist ein typischer sagt er, unbeliebte politische den Rücktritten von Horst
mut lässt er nur ganz am Biermann ist dabei. Nicht nur Wand projiziert, die Gaucks Gauck. Einerseits, anderer- Ansichten dürften nicht pau- Köhler und Christian Wulff,
Schluss zu. Aber Joachim die Gästeliste ist gehaltvoll, Sorgen benennen. „Die Welt seits sagt er öfter, manchmal schal ausgegrenzt werden. da begleiteten ihn viele Hoff-
Gauck hat mit Absicht die- auch Gaucks Worte haben im Dauerkrisenmodus“, – ist es ein kräftiges „sowohl „Austausch und Diskussion nungen, aber auch Ungewiss-
sen besonders feierlichen es in sich. „Europa aus den Fugen“ – als auch“. Aber klare Kante sind der Sauerstoff der offe- heit, wie er mit diesem Amt
Rahmen für seinen letzten „Wie soll es aussehen, „Syrien – das vollendete real- zeigt der Mann, der in der nen Gesellschaft, Streit ihr umgehen würde. Wenn er das
großen Auftritt im Schloss unser Land?“ – Dieses Zitat politische Desaster“ – „Mit nächsten Woche 77 Jahre belebendes Element.“ Schloss Bellevue am 18. März
Bellevue gewählt: Musikali- aus seiner Antrittsrede 2012 Deutschland geht es struktu- alt wird, bei der Forderung Es ist eine ernste und an- verlässt und wahrscheinlich
sches Programm, 200 Ehren- nimmt er auf an diesem rell bergab“ – „Plebiszit des nach einer aktiveren Sicher- spruchsvolle Rede, nicht ein- Frank-Walter Steinmeier als
gäste, Prominenz nicht nur Mittwoch und macht klar, Grauens“. heitspolitik – im Innern wie mal unterbricht Beifall die Nachfolger Platz macht, dann
aus der Politik. Noch einmal dass sich vieles geändert hat Gleich zu Beginn listet der nach außen. Selbstverständ- Ausführungen des Hausherrn. werden ihn die Sorgen über
redet der Bundespräsident seitdem: „Nun, nach fast fünf Bundespräsident die größten lich knüpft er damit an seine Aber kalt lassen die Worte nie- die Zukunft begleiten. Aber
seinen Landsleuten ins Ge- Jahren, bin ich stärker beein- Risiken auf. Europa droht die Worte vor der Münchener manden, auch Gauck selbst er dürfte auch zufrieden sein
wissen. Und zeigt, dass er flusst von dem Bewusstsein, Auflösung, Kriege im Nahen Sicherheitskonferenz 2014 nicht. Nach 45 Minuten bringt mit dem Erreichten. Dass
sich große Sorgen macht um dass diesem demokratischen Osten und in der Ukraine, an, als er Deutschland auf- er es noch einmal auf den Deutschland womöglich gar
dieses Land – „das beste, das und stabilen Deutschland islamistischer Terror, Unsi- rief, mehr internationale Ver- Punkt: „Wenn ich mich nun keinen Präsidenten bräuchte,
demokratischste Deutsch- auch Gefahren drohen. Und cherheit angesichts des künf- antwortung zu übernehmen. frage, was das Wichtigste ist, das denkt heute eigentlich
land, das wir jemals hatten“. dass große Anstrengungen tigen US-Präsidenten, dessen Besonders wichtig ist ihm an das wir unseren Kindern und kaum jemand mehr.
Die Amtszeit des Bundespräsidenten in Zitaten
Terror: „Gerade in Zeiten ter- auf das Satire-Magazin „Char- und Gewalt zu säen.“ (am (am 26. August 2015 über Überleben unschuldiger Men- in einer Diskussion mit Berli-
roristischer Attacken sollten lie Hebdo“ in Paris) 29. November 2016 bei einem freiwillige Helfer beim Be- schen ist es manchmal erfor- ner Schülern)
wir die Gräben in unserer Besuch in Offenbach, der such einer Berliner Flücht- derlich, auch zu den Waffen
Gesellschaft nicht vertiefen, Flüchtlinge und Gesell- unter dem Motto Integra- lingsunterkunft) zu greifen.“ (am 14. Juni 2014 Amtszeit: „Liebe Leute, ihr
weder Gruppen pauschal zu schaft: „Die entscheidende tion und Zusammenleben in im Deutschlandfunk) wisst es doch genau: Ihr habt
Verdächtigen noch Politiker Trennlinie in unserem Land Deutschland stand) Krieg und Frieden: „Manch- keinen Heilsbringer oder kei-
pauschal zu Schuldigen erklä- verläuft nämlich nicht zwi- „Wir wollen helfen. Unser mal kann auch der Einsatz Rechtsradikalismus: „Euer nen Heiligen oder keinen En-
ren.“ (am 25. Dezember 2016 schen alten und neuen Deut- Herz ist weit. Doch unsere von Soldaten erforderlich Hass ist unser Ansporn.“ (am gel, ihr habt einen Menschen
in der Weihnachtsansprache schen, zwischen Einheimi- Möglichkeiten sind endlich.“ sein.“ (am 31. Januar 2014 23. März 2012 nach seiner aus der Mitte der Bevölkerung
nach dem Berliner Terror- schen und Zugewanderten, (am 27. September 2015 in auf der Münchner Sicher- Vereidigung im Bundestag als Bundespräsidenten.“ (am
anschlag) auch nicht zwischen Musli- Mainz beim Festakt zum Start heitskonferenz) über Rechtsextremisten) 18. März 2012 nach seiner
„Die Attentate haben uns men und Nicht-Muslimen. der Interkulturellen Woche) „Dass es wieder deutsche „Dass in der Mitte unseres Wahl zum Bundespräsiden-
gezeigt, wie verwundbar die Die entscheidende Trennlinie „Es gibt ein helles Deutsch- Gefallene gibt, ist für unsere Volkes ausgerechnet rechts- ten im Sender n-tv)
offene Gesellschaft ist. Aber verläuft zwischen Demokra- land, das hier sich leuchtend glücksüchtige Gesellschaft radikale Überzeugungen wie- „Ich möchte für eine er-
sie haben auch bewirkt, dass ten und Nicht-Demokraten, darstellt gegenüber dem schwer zu ertragen.“ (am der Gehör finden – das finde neute Zeitspanne von fünf
wir uns neu besinnen. Die zwischen jenen, die eine of- Dunkeldeutschland, das wir 12. Juni 2012 in der Füh- ich so eklig. (...) Wir brauchen Jahren nicht eine Energie und
Terroristen wollten uns spal- fene, demokratische Gesell- empfinden, wenn wir von rungsakademie der Bundes- da Bürger, die auf die Straße Vitalität voraussetzen, für die
ten. Erreicht haben sie das schaft verteidigen wollen Attacken auf Asylbewerber- wehr in Hamburg zu Aus- gehen, die den Spinnern ihre ich nicht garantieren kann.“
Gegenteil: Sie haben uns zu- und werden, und jenen, die unterkünfte oder gar frem- landseinsätzen) Grenzen aufweisen und die (am 6. Juni 2016 im Schloss
sammengeführt.“ (am 13. Ja- die Meinungsfreiheit nur aus- denfeindlichen Aktionen „In diesem Kampf für sagen: bis hierher und nicht Bellevue über den Verzicht
nuar 2015 über den Anschlag nutzen, um Zwietracht, Hass gegen Menschen hören.“ Menschenrechte oder für das weiter!“ (am 29. August 2013 auf eine zweite Amtszeit)
TZ PZ PAZ HZ MZ SZS AZ AZD DZ MST MSM NBN NBS