Page 419 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.
Von
A. Vierkandt.
Berlin.
Eine wesentliche Eigenschaft der menschlichen Cultur besteht
darin, dass die einzelnen Culturgüter Gruppen von festen Formen
bilden, von denen alles menschliche Leben umfasst wird, in denen
es verläuft. Das gilt sowohl für Sitte, Recht und Cultus, wie für
die Sprache, die Denkgewohnheiten und allgemeinen Anschauungen
eines Volkes sowohl auf dem ethischen, wie dem religiösen, dem
pohtischen und anderen Grebieten, wie auch für die Erscheinungen
der Technik und Wirthschaft, die verschiedenen Berufsarten oder
die wissenschaftHche und künstlerische Thätigkeit. Ueberall findet
der Einzelne hier feste Geleise vor, in denen er sich im allgemeinen
ebenso weiter bewegt, wie es die andern vor ihm gethan haben und
neben ihm thun. Die vorliegende Abhandlung versucht die Frage
zu beantworten: auf welchen Ursachen beruht dieses Weiterbestehen
der eirmal vorhandenen festen Formen, diese Erhaltung der Cultur? i)
Im wesentlichen dieselbe Frage hat bereits Tarde in seinem epoche-
machenden Buche >Les lois de l'imitation« zu beantworten gesucht.
Zwar spricht er dort nur von der Bedeutung der Nachahmung für
das Bestehen der Gesellschaft und Cultur. Aber diese Nachahmung
ist bei ihm ein sehr complexer Begriff, der bei genauerer Betrachtung
eine Fülle einzelner Factoren in sich fasst. Die folgende Skizze, die
1) Die analoge Frage für die Erhaltung der Gruppe hat bereits Georg
Simmel behandelt: Schmoller's Jahrbücher, Bd. 22, S. 235—286 (»Die Selbst-
erhaltung der socialen Gruppe«).