Page 421 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultnr. 409
es umgekehrt von ihnen aufs stärkste beeinflusst wird. Auf der
anderen Seite eine Reihe von Processen, denen jede Absicht der
Erhaltung der Culturgüter fem liegt, die nicht einmal ein Bewusst-
sein der entsprechenden Wirkung in sich enthalten, und die von so
geringer AbsichtHchkeit und von so geringer Stärke sind, dass über-
haupt erst eine nachträgliche Reflexion sie sich zum Bewusstsein
zu bringen vermag. Ein System von objectiven, über den Einzelnen
schwebenden festen Formen als einen beiläufigen Effect derartiger
Bewusstseinsvorgänge zu begreifen erscheint auf den ersten Blick als
ein verzweifeltes Unternehmen. Allein das geistige Leben wird
allgemein von einem derartigen Missverhältniss von Ursache und
Wirkung, von einer Tendenz der Selbststeigerung beherrscht, von der
wir als besondere Fälle mit Wundt das Princip der schöpferischen
Synthese, das Wachsthum der geistigen Energie und die Heterogonie
der Zwecke anführen können i). Unsere Aufgabe beschränkt sich daher
darauf, im vorHegenden Falle diese merkwürdige Thatsache, die wir als
von vornherein gegeben hinnehmen müssen, uns durch eine mögUchst
eingehende Beschreibung und Zerghederung der einschlägigen Erschei-
nungen nach Kräften verständlich zu machen.
Wir stoßen dabei freilich auf gewisse Schwierigkeiten, auf die
wir hier zunächst kurz hinweisen. Es sind ihrer wesentHch drei.
Sie wurzeln in der allgemeinen Natur des geistigen Lebens und der
Unmöglichkeit, sie adäquat darzustellen. Erstens kann die Analyse
der Erscheinungen nicht den Grad erreichen, der dem logischen Be-
dürfniss genügen würde. Sie kann nur »Theilinhalte des Bewusstseins«
analysiren, > deren jeden sie als einen unlösbaren Zusammenhang
von Eigenschaften festhält, die stets an einander gebunden und daher
in diesem Sinne unanalysirbar sind« 2). Die Zerghederung führt also
immer wieder auf complexe Vorgänge ; es lässt sich daher eine partielle
Wiederholung nicht vermeiden, insofern gewisse elementare Processe
bei verschiedenen Complexen zur Darstellung kommen. Zweitens
geht die Analyse in anderer Beziehung oft zu weit. »Alle jene Theil-
inhalte des Bewusstseins, welche die psychologische Analyse unter-
1) Vgl. Wundt, Logik 2 n, 2, S. 267—281. Wundt, Ethik 2 S. 265. Wundt,
System der Philosophie S. 314—318 und S. 343—345.
2) Wundt, Logik 2 n, 2, S. 60.