Page 423 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.
Gemeinschaft stattfindenden Wechselwirkungen oder vorwiegend der
Natur der Culturgüter selbst, wie sie dem Bewusstsein erscheinen,
entfließen. Die erstere Gruppe verhält sich gegen den specifischen
Inhalt der jeweiligen einzelnen Culturgüter von vornherein gleichgültig,
die letztere entspringt deren wahrem oder vermeintlichem Werth.
Wir bezeichnen die erstere als die formalen, die letztere als die
sachlichen Gründe. Wir beginnen mit der ersteren.
I. Die formalen Gründe.
1) Das Selbstgefühl. Dieses kann sowohl zu Leistungen, welche
zu den bestehenden Culturformen in Widerspruch stehen, wie zu
solchen, welche mit ihnen in Uebereinstimmung stehen, anreizen.
Der erstere Typus, als dessen Beispiel etwa die bekannte That des
Herostrat dienen könnte, wird freilich angesichts des Gegenge-
wichtes, welches die sämmtlichen übrigen hier weiter zu betrachten-
den Factoren in die Wagschale werfen, sich verhältnissmäßig selten
realisiren. Bei dem zweiten Typus kann es sich wieder entweder um
Leistungen handeln, die sich nur nach ihrer allgemeinen Qualität
aber nicht im einzelnen den bestehenden Formen einfügen, vielmehr,
im einzelnen diese zu modificiren oder zu bereichem suchen, oder
es kann sich um solche handeln, bei denen sowohl im ganzen wie im
einzelnen jene Uebereinstimmung vorhanden ist. Den ersteren
Fall repräsentiren Bestrebungen, welche die im allgemeinen bei einer
Gruppe gangbaren Mittel, sich Ansehen zu verschaffen, in neuen
Modificationen benutzen. Hier handelt es sich also eigentlich gar nicht
um das Weiterbestehen, sondern vielmehr um die Neugestaltung von
Culturgütem. Insbesondere alles Aufbringen neuer Moden kommt
hier in Betracht. Im zweiten Fall treibt das Selbstgefühl den Menschen
an, mit den bereits vorhandenen Formen der Gesellschaft sich aus
Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Uebereinstimmung zu setzen
oder zu erhalten. Das Selbstgefühl kann dabei entweder eine posi-
tive oder eine negative Wirkung ausüben. Das erstere ist da
der Fall, wo die Bethätigung vorhandener fester Formen wegen der
damit verknüpften Befriedigung des Selbstgefühls mit einem positiven
Lustgefühl verknüpft ist; insbesondere da, wo der Einzelne innerhalb
des gegebenen festen Böhmens eine gewisse Selbständigkeit dadurch