Page 427 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur. 415
angelegtes Gewand erscheint, aber nicht mit ihrem ganzen Wesen ver-
wachsen ist. AehnHch ist es auf dem Gebiet der Technik und In-
dustrie. So groß ihre Leistungen auch sind, so handelt es sich bei
ihnen meist doch mehr um Modificationen und Verbesserungen im
Einzelnen als um wirklich bahnbrechende Leistungen. Auf wie wenig
selbständigen Schöpfungen z. B. baut sich das ganze Reich der Technik
der Kriegsführung auf. Bei den Naturvölkern handelt es sich trotz
der verwirrenden Fülle der einzelnen Formen immer nur um einige
wenige Grundformen, wie Bogen, Speer, Schild, Keule und Schwert
— Formen, die wir bereits auf recht niedrigen Culturstufen antreffen.
Auf eine bahnbrechende neue Schöpfung stoßen wir von da ab erst
wieder in der Neuzeit in Gestalt der Schusswaffen. Lehrreich ist
femer der Mangel an rationellem Charakter, das Ueberwiegen der
Ueberheferung und des Herkommens über die Zweckmäßigkeit bei
den Geräthen des täglichen Lebens, bei den Leistungen des Hand-
werks und der Industrie — eine Eigenschaft, die Herbert Spencer
einmal einer eingehenden Würdigung unterzogen hat.
Wie sehr die menschliche Vernunft selbst im wissenschafthchen
Leben lahmt, das sehen wir femer an einem einzelnen Beispiel, an
der langsamen Entwicklung der Fourier'schen Theorie der Wärme-
leitung, die uns Mach mit den folgenden Worten beschreibt: »Jedem,
der die Fourier'sche Theorie kennen lernt, wird dieselbe als eine
große Leistung erscheinen. Bedenkt man aber, aus was für einfachen
Mitteln sich dieselbe zusammensetzt, welche von verschiedenen be-
deutenden Menschen in dem Zeitraum von mehr als einem Jahr-
hundert mühsam unter vielfachen Irrthümem herbeigeschafft worden
sind, so darf man wohl glauben, dass dieses Gebäude unter günstigen
äußeren und psychologischen Umständen wohl auch in recht kurzer
Zeit hätte zu Stande kommen können. Man lernt hieraus, dass auch
der bedeutende Intellect mehr dem Leben als der Forschung ange-
passt ist« 1). In derselben Gedankenrichtung liegt es, wenn v. Helm-
holtz die Art, wie die großen Probleme gelöst werden, dem planlosen
Ersteigen eines unbekannten Berges vergleicht, bei dem man erst
ganz zuletzt eine bequeme Straße erblickt, die man gleich hätte be-
nutzen können; oder wenn Werner von Siemens einmal sagt: »Die
1) Mach, Principien der Wärmelehre. S. 124.