Page 429 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.      417

     wiegend wegen ihres innem Werthes, sondern ebenso sehr oder mehr
     aus reiner Bequemlichkeit, aus Mangel an eigener Spontaneität bevor-
     zugt.  Der Dmck, den politische und    religiöse Parteien durchweg
     auf  das Denken   ihrer  Anhänger  ausüben,  selbst  solcher Köpfe
     darunter, die sonst ziemlich selbständig sind, ist ähnlich zu erklären:
     wer eine festgeprägte Summe von Erscheinungen und Schlagworten
     nicht nur sich aneignen kann, sondern sich von den verschiedensten
     Seiten geradezu aufgedrängt sieht, der wird nur mit ziemlichem Kraft-
     aufwand diesem fremden Gut gegenüber   seine geistige Integrität zu
     wahren vermögen.   Dass  die Bethätigung der verschiedenen Berufs-
     arten, der technischen und wirthschaftlichen Lebensformen sich immer
     wieder in denselben Bahnen bewegt,  ist ebenfalls zum großen Theil
     hieraus zu erklären.  Nicht nur zweckmäßige sondern auch zwecklose
     oder ganz unzweckmäßige Bestandtheile in ihnen werden auf   diese
     Weise unverdient conservirt.  Besonders deutlich kann man die Wirk-
     samkeit dieses Factors auf dem Gebiet der Sitten   erkennen.  Die
     Sitte enthält für  fast  alle wichtigen  typischen Erscheinungen und
     Schwierigkeiten des Lebens feste Bahnen des Benehmens, welche zu-
     gleich die bequemste Art darstellen, die etwa vorhandenen Schwierig-
     keiten zu beseitigen.  Wieviel mehr eigener Initiative bedürfte  z. B.
     der Mensch, wenn es keine festen Formen     für  die Eheschließung
     oder bei Todesfällen gäbe.  Wie  die vorhandenen Umgangsformen
     über manche Schwierigkeiten, insbesondere über starke Spannungen
     hinweg helfen, indem sie wie mit einem weiten,  gestaltlosen Mantel
     alle starken Affecte verhüllen und daran verhindern,  sich  sichtbar
     kund zu geben,  ist  oft genug gerühmt worden.  Diejenigen Gesell-
     schaftskreise, welche  über einen besonderen Comment zum Schutz
     ihrer Classenehre verfügen,  besitzen  ebenfalls  ein bequemes Mittel,
     die Schwierigkeiten zu lösen,  welche für einen Menschen aus  der
     Verletzung seiner Ehre durch einen anderen sich ergeben.  Alle diese
     Formen spielen offenbar eine ähnliche Rolle wie  die Auskunft,  die
     man sonst wohl in einer schwierigen individuellen Lage von einem
     bewährten Freunde  erbittet und erhält:  sie stellen einen Typus des
     Benehmens   dar,  welcher den Einzelnen  mindestens durchweg  vor
     Tadel und Missachtung bewahrt, in vielen Fällen auch zu demjenigen
     Verhalten führt, welches der Situation am meisten angemessen ist.
        Der eben betrachtete Factor ist offenbar vorzüglich für diejenigen
        Wundt, PMlos. Studien. XX.                       27
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