Page 431 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.      419

     der subjectiven Sefewierigkeiten ermöglicht.  Vor allem hierauf beruht
     das außerordentliche Missverhältniss  zwischen  der  subjectiven und
     der  objectiven  Seite der Cultur, zwischen den  ihre Erscheinungen
     schaffenden Anstrengungen und den von    ihnen ausgehenden Wir-
     kungen — ein Missverhältniss, welches immer auf's Neue das Erstaunen
     des denkenden Beobachters hervorzurufen geeignet ist.
         Die Bedeutung der üebung für   die Erhaltung der Culturformen
     ist danach klar.  Sie hält den Einzelnen in ihren festen Geleisen aus
     einem zweifachen Grunde   fest.  Erstens macht  sie es ihm leichter
     sich  in  ihnen  als  außerhalb  ihrer zu bewegen.  Namentlich  im
     höheren Alter zeigt  sich vorzüglich im Berufsleben  die Bedeutung
     dieses Umstandes in Gestalt der bekannten Thatsache, dass hier die
     Leistungsfähigkeit innerhalb des Berufes, namentlich in den höheren
     Berufsarten bis weit über jene Altersgrenze sich erhält oder gar noch
     steigt, jenseits deren die allgemeine Leistungsfähigkeit vorzüglich neuen
     und  ungewohnten Aufgaben gegenüber     bereits  wieder  herabsinkt.
     Zweitens wirkt  die mit der Uebung verbundene Mechanisirung auf
     die Regsamkeit und Variationskraft des Geistes lähmend  ein, wirkt
     also in demselben Sinne wie der eben betrachtete Mangel an Liitiative.
     Von den Kreisen des Handwerkers an aufwärts bis zu denjenigen des
     Gelehrten oder Künstlers, die in ihren Methoden, in die sie sich ein-
     mal eingearbeitet haben, auch dann sich noch weiter fortbewegen, wenn
     diese lange nicht mehr die vollkommensten sind, erstreckt sich diese
     conservative und lähmende Wirksamkeit der üebung.


         5) Die Macht der Gewohnheit.      Sie darf nicht mit dem Werth
     der Uebung vei-wechselt werden;  die  letztere nämlich wirkt positiv,
     die  erstere negativ hemmend,  insofern die üebung  ein  bestimmtes
     Thun   erleichtert,  die Gewohnheit aber  als eine Art innerer Zwang
     den Menschen verhindert,  dieses Thun mit einem anderen zu   ver-
     tauschen. Am bekanntesten ist dieser eigenthümHche Zwang der Ge-
     wohnheit bei ganz individuellen Lebensgewohnheiten, deren Ausübung
     objectiv betrachtet  für den Betreffenden keineswegs einen größeren
                        die Beobachtung irgend welcher anderen Lebens-
     Werth besitzt  als
     formen, deren Unterlassung aber, mag   es sich auch z.B. nur um
     die Gewohnheit, handeln zu einer bestimmten Stunde einen Spazier-
     gang zu machen, den Betreffenden Unbehagen verursachen würde. Den
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