Page 435 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.
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ähnlichen Symbolen auszuüben! Diese ganze Art einen Werth in
Dinge hineinzutragen, die erst ihre eigenartige Bedeutung gewinnen,
können wir am besten an der sexuellen Liebe erläutern, deren idea-
lisirende Wirkung ja bekannt ist. lieber diese, bei einzelnen Lebens-
processen sich äußernden Wirkungen hinaus aber macht sich noch
eine weitere Verschiebung des Gefühles geltend, vermöge deren das
ganze Leben des Menschen für ihn wie für seine Mitmenschen mit
seinem allgemeinen Hintergrund, mit seinen technischen, künstlerischen,
wirthschaftlichen Zuständen, den religiösen, pohtischen Anschauungen
u. s. w. verwächst. Ueberall aber liegt in diesen Dingen offenbar ein
Grund, an allen diesen Formen festzuhalten.
In anderen Fällen strahlt das Gefühl nicht vom Lihalt zum
Rahmen, sondern von einem Gegenstande zu einem gleichartigen über.
In wissenschaftUchen Systemen wird so neben dem Wahren oft das
Falsche gleich geachtet und mithin für wahr aufgenommen. Mora-
lische oder ästhetische Yerirrungen einer Zeit finden mit deswegen
allgemeine Anerkennung, weil sie oft mit den besten Leistungen auf
diesen Gebieten eng verknüpft auftreten. Gerade die moralisch hoch
stehenden Naturen huldigen oft auch manchen Excessen oder Per-
versitäten besonders eifrig, weil sie in Folge ihrer Selbstzucht den
Anforderungen ihrer Zeit zu entsprechen sich besonders eifrig be-
mühen; so etwa einem Uebermaß von Selbstentäußerung in Gestalt
der Askese oder den Anforderungen eines übertriebenen Ehrgefühls
in Gestalt des Duellwesens oder auf tieferen Stufen den Geboten
einer wilden Grausamkeit u. s. w. Auf dem ästhetischen Gebiet ver-
hält es sich zum Theü offenbar analog.
Einen besonderen Fall der in Rede stehenden Gefühlswii-kungen
bildet weiter die Neigung am Alten zu haften. Freilich handelt
es sich auch schon im vorigen Falle eigentlich um ein solches Haften,
sofern ja aUe festen Formen die Eigenschaft haben alt zu sein. Die
Steigerung, die wir hier meinen, beruht aber vorzüglich darauf, dass
hier auch das Verwachsensein dieser Formen mit den vergangenen
Geschlechtem für das Gemüth in Betracht kommt. Die Affecte der
Verehning und Liebe, die sich den Vorfahren zuwenden, übertragen
sich ebenfalls auf den Rahmen, innerhalb dessen deren Leben ver-
flossen ist. Sie wirken hier ganz ähnhch verstärkend, wie schon
innerhalb des individuellen Lebens es in den meisten Fällen die