Page 439 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.
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    Der Neger, der v^m Hauch der europäischen Gesittung einmal ge-
    streift  ist, zeigt ebenso ein Bestreben, diese in allen ihm erreichbaren
    und verständlichen Merkmalen, vor aUem also in nichtigen Aeußerhch-
    keiten, oft in antiquirten Moden und verbrauchten Abfällen, nachzu-
    ahmen.   Er bhckt dann als »Hosennigger«  stolz auf die Buschleute
    des Innern herab, deren Unberührtheit solcher Zierrathe  entbehrt.
    Aehnlich beschreibt uns eine Schilderung Passarge 's drastisch, mit
    welchem Hohn die mohamedanischen Fulbe auf die viel tiefer stehen-
    den, nur mit einem Penis -Futteral bekleideten Heidenneger herab-
    blickten, die sich dieses Anzuges vor ihnen weidlich schämten.  Der
    Gi-imd  dafiii' ist klar.  Alle EigenthümUchkeiten, durch die sich eine
    Gruppe von anderen unterscheidet, verschmelzen für ihr Bewusstsein
    mit der Vorstellung ihres eigenen Werthes; der Affect, der sich ur-
    sprünglich auf den letzteren bezieht, wird dadurch auch auf die Vor-
    stellung der ersteren übertragen.  Die Stärke dieses Affectes beruht
    vorzüglich auf der Fülle der hier in Betracht kommenden Wechsel-
    wirkungen.  Solche  treten zwar bei den meisten der von uns hier
    der Reihe nach erörterten Factoren auf ; doch möge es genügen ihre
    Art an diesem einen Fall zu erläutern.  Einerseits finden sie in der
    bekannten Weise zwischen den einzelnen Individuen statt, indem die
    Kundgebungen jedes Einzelnen auf den Affect aller anderen verstär-
    kend einwirken ; anderseits existirt bei jedem Einzelnen zwischen dem
     Selbstgefühl selbst und seinen Bethätigungen eine analoge Wechsel-
    wirkung wiederum mit accumulativer Tendenz. Beide Systeme poten-
    ziren  sich natürhch gegenseitig.  Für die Stärke  des  so erzeugten
     Gefühles führen wir hier noch das folgende Beispiel an.  Bei den
    Bella -BeUa auf Vancouver   ist der Lippenpflock  zugleich  ein Ab-
    zeichen des Ranges, da bei jeder Vergrößerung des Pflockes ein kost-
    spieliges Fest gegeben werden muss.  Cunningham belauscht« ein-
    mal den   Streit  zw^eier Damen  dieses Stammes, deren  eine endlich
    ihren Lippenpflock  als entscheidenden Trxmipf  ausspielte, indem sie
     schrie: »Was bist Du denn?  Hast Du vielleicht eine so große Lippe
    wie ich, hast Du  so  viele Geschenke gegeben wie ich?  Geh nach
    Hause, und wenn Du mit einem      so großen Pflock wiederkommst,
    wie ich habe, dann wollen wir weiter reden!«   Die andre  ließ den
    Kopf hängen und schhch davon ^).
        1) Schurtz, Urgeschichte der Oultur.  S. 65.
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