Page 441 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Grründe für die Erhaltung der Cultur.
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    und dritten Factors dafür verantwortlich machen.  Mit  dieser stär-
    keren Wirkung des Gruppenbewusstseins    innerhalb  engerer  Kj-eise
    hängt es zusammen,  dass es bei uns von \iel größerer Wirksamkeit
    als  für  ernsthafte  Culturgüter  für  gewisse Aeußerhchkeiten und
    einzelne Modethorheiten ist.
       8) Die Nachahmung.       Ihre Wirksamkeit zeigt sich vorzüglich
    auf zwei verschiedenen Gebieten.  Erstens auf demjenigen der persön-
    lichen Lebensführung und zweitens in einer Reihe von Erscheinungen,
    die man wohl auf einen besonderen Unterordnungstrieb hat zurück-
    führen wollen.  Beider persönlichen Lebensführung denken wir
    an die Art und Weise, wie der Einzelne sein Leben in den großen
    Hauptzügen zu ordnen pflegt, wie er sich mit den ernsten Aufgaben
    des Lebens auseinander  setzt und  seine Muße ausfüllt,  also sowohl
    an die Arbeit wie an den Sport, den Genuss,   die Formen des Zu-
    sammenlebens und dergleichen.  Auch   die Beobachtung so mancher
    Sitten,  z. B.  derjenigen,  die  die großen  Ereignisse  des einzelnen
    Lebens einrahmen," wie die Sitte der Taufe, der Hochzeit,  des Be-
    gräbnisses, gehört offenbar zum Theil hierher.
       In allen diesen Dingen  ist der Einfluss der Nachahmung unver-
    kennbar.  Auf den Gedanken ein Haus zu kaufen,    eine Ehe einzu-
    gehen,  eine Vergnügungsreise zu unternehmen oder  eine bestimmte
    Art von Sport zu treiben, bestimmte Berufe zu ergreifen u. a. würden
    die wenigsten Menschen kommen, wenn sie nicht die Vorbilder dazu
    fortwährend um sich sähen.  Bedürfte es noch eines besonderen Be-
    weises für diesen Einfluss der Nachahmung, so könnte man sich auf
    das Missverhältniss berufen, das hier, wie so oft im Leben, zwischen
    Zweckmäßigkeit und Zweckbewusstsein herrscht.  Alle die genannten
    Handlungen und Maßnahmen sind wegen der mit ihnen verknüpften
    Werthe offenbar  als zweckmäßig zu bezeichnen, aber ein auch nur
    einigermaßen klares Bewusstsein davon hat der Einzelne, wenn er
    sie ins Werk zu setzen beginnt, offenbar nicht. Wundt ist deswegen
    mit Recht nicht abgeneigt, auch auf diese Erscheinung des mensch-
    lichen Lebens den aus  der Thierwelt entnommenen Begriff des In-
    stinctes anzuwenden  i).
       Zwei Gründe können vorzüglich für diese Nachahmung angegeben

        1) "Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. - S. 432.
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