Page 438 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 438

426                        ^- Vierkandt.

       diejenige der Nation, zu groß, der Zusammenhang zwischen ihren
       einzelnen Individuen zu abstract,  zu wenig sinnlicher Natur ist, um
       das Gruppenbewusstsein unter normalen Verhältnissen noch mit hin-
       reichender Kraft in die Erscheinung treten zu lassen.  Wir müssen
       bei uns schon zu den kleineren Kreisen hinabsteigen um es wahr-
       nehmen  zu können.   In  der Familie,  in Vereinen,  Berufsclassen,
       Ständen,  bei den Kandern  in Schulen und Schulclassen  ist  es  viel
       deutlicher zu erkennen.  Der Dörfler, der auf den Städter oder auf
       die Angehörigen anderer Dörfer in abgelegenen Gregenden vielleicht
       noch mit einem Gefühl der Ueberlegenheit der eigenen Gruppe und
       der Minderwerthigkeit anderer hinabsieht, zeigt es ebenfalls bedeutend
       kräftiger.  Wie stark es bei den Naturvölkern  ist, geht  z, B. daraus
       hervor,  dass oft der Name  eines Stammes wie  z. B. der der Innuit
       mit dem Worte für Menschen schlechtweg identisch   ist ähnlich wie
       die hochgestiegenen Griechen bekanntlich auf  alle anderen Völker
       als Barbaren mit Geringschätzung herabsahen.   Das Hinschwinden
       der Naturvölker vor dem Hauche der europäischen Gesittung erklärt
       sich bekanntlich zum Theil, wie man besonders  bei den Indianern
       beobachten kann, aus demselben Stammesselbstgefühl, welches sich
       gegenüber der für  sie nicht  bestreitbaren Ueberlegenheit der euro-
       päischen Cultur tödtlich verletzt fühlt.
          Die naheliegende Wirkung dieses Gruppenbewusstseins besteht in
       der Hochschätzung  aller charakteristischen Eigenarten der  eigenen
       und der Unterschätzung aller entsprechenden Eigenarten der fremden
       Gruppen.  Für den naiven Menschen    ist die Art,  wie er und sein
       Stamm das Leben ordnet und führt, die einzig vernünftige, neben der
       alle andern als unvernünftig erscheinen.  Auf dem Lande sehen wir
       noch heute bei uns, wie etwa abweichende Bräuche und dialektische
      Abweichungen bei Nachbardörfern von dem Dörfler verspottet werden.
       George Elliot hat uns meisterhaft geschildert wie in einer, freilich
       schon etwas zurückliegenden Zeit den Weber Silas Marner,     der
      in ein fremdes Dorf einwanderte,  dessen Einwohner kaum  als einen
      vollen Menschen gelten lassen wollten.  In den höheren Gesellschafts-
      schichten bemerken wir bei uns ähnlich auf dem Gebiet der Umgangs-
       formen gerade da, wo es sich um ganz nichtige Eigenthümlichkeiten
      handelt,  in allen einigermaßen exclusiv denkenden Gruppen dieselbe
      Neigung, solche unterscheidenden Merkmale überaus hoch zu schätzen.
   433   434   435   436   437   438   439   440   441   442   443