Page 440 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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          Die Wirkung dieses Gruppenbewusstseins auf die Erhaltung der
       Culturgüter liegt auf der Hand. Aus der Hochschätzung der Eigen-
       thümlichkeiten der Gruppe ergibt sich ein Bestreben, an ihnen fest
       zu halten und zwar sowohl aus einem positiven wie aus einem nega-
       tiven  Grunde:  aus einem positiven,  weil  alle  jene Eigenthümlich-
       keiten als werthvoU an sich empfunden werden, und aus einem nega-
       tiven,  weil man  der Vermengung   mit  anderen Gruppen   dadurch
       vorbeugen will. Das Verhalten des Einzelnen wird durch dieses Be-
       streben sowohl unmittelbar wie  mittelbar  beeinflusst.  Unmittelbar
       sucht er selbst aus den genannten beiden Gründen alle Eigenthüm-
       lichkeiten  seiner Gruppe zum Ausdruck zu bringen, mittelbar aber
       kommt die Wirkung der Gruppe auf ihn in Betracht, sofern sie den
       Wunsch hat, dass jeder ihrer Angehörigen in seinem Benehmen von
       den Eigenthümlichkeiten der Gruppe nicht abweicht.
          Die  Stärke,  mit der der hier betrachtete Factor wirkt,  ist bei
       verschiedenen Gruppen verschieden.  Sie hängt davon   ab,  ob der
       Einzelne sich mit seiner Gruppe stark oder schwach verknüpft fühlt,
       mehr oder weniger in ihr aufgeht. Der Grad dieses Aufgehens hängt
       wieder von drei Umständen ab.   Erstens nimmt er mit der wachsen-
       den Höhe des geistigen Lebens ab, weil diese die Individuen immer
       mehr differenzirt. Zweitens nimmt er unter sonst gleichen Umständen
       mit dem Umfange der Gruppen ab, weil der wachsende Umfang so-
       wohl  die  Gleichartigkeit  des  Bewusstseinszustandes  wie  auch  die
       Uebersichtlichkeit und  die sinnliche Anschaulichkeit des Zusammen-
       hanges beeinträchtigt. Wir berühren damit schon den dritten Factor,
       welcher in der Ai't des Zusammenhangs besteht.  Je mehr der Zu-
       sammenhang   sinnlicher und anschaulicher Natur  ist,  desto stärker
       ist er, während er in dem Maße   sich abschwächt,  in dem er einen
       abstracteren Charakter annimmt.  Steigen wir daher von tieferen zu
       höheren Stämmen   auf, indem wir immer das Volk als Gesammtheit
       im Auge behalten,   so vereinigen  sich alle  drei Umstände, um das
       Gruppenbewusstsein  zu  vermindern.  Günstiger  gestaltet  sich  das
       Verhältniss auf höheren Stufen, wenn   wir  zu  kleineren Gruppen
       herabsteigen,  z. B. zu einzelnen Berufsclassen oder einzelnen Gesell-.
       Schaftskreisen. Wenn einzelne von ihnen,  z. B. der Officierstand, sich
       durch ein besonders starkes Gruppenbewusstsein auszeichnen, so kann
       man auch hier wohl noch die  relativ starke Wii-ksamkeit des ersten
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