Page 430 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       Fälle von Bedeutung, wo dem Einzelnen    die  in Betracht kommen-
       den Formen der Cultur noch neu sind; theils also gegenüber solchen
       Culturgütern,  deren Ausübung  ihrer  Natur  nach dem Einzelnen
       nur gelegentlich zufällt, wie etwa die Beobachtung bestimmter Sitten
       und Formen    bei  den  großen  Ereignissen  des  einzelnen  Lebens,
       theils da, wo der Einzelne in die festen Bahnen des Erwerbs- und
       Berufslebens frisch eintritt.  Sowie er  sich länger in ihnen bewegt,
       tritt zu der negativen Wirksamkeit des Mangels an Initiative noch
       die positive Wirksamkeit eines andern Factors hinzu, zu dessen Be-
       trachtung wir jetzt übergehen.

          4) Die Uebung.    Ihre für uns wesentlichste Wirkung besteht in
       der bekannten Erleichterung, welche  sie jeder Thätigkeit gewährt.
       Am deutlichsten ist diese bei allen körperlichen Fertigkeiten, welche
       einer besonderen Erlernung bedürfen, durch  diese aber völlig auto-
       matisch werden.  Der Gregensatz zwischen der außerordentlichen An-
       strengung, welche das Abspielen des einfachsten Musikstückes dem
       ungeübten Anfänger bereitet, und der automatischen Sicherheit, mit
       welcher der Geübte das schwierigste Stück auch bei Ablenkung seiner
       Aufmerksamkeit bewältigt,  zeigt uns diesen Einfluss in  drastischer
       Weise.  Auf seiner Yerkennung   beruht  die  durchgängige  Ueber-
       schätzung der Leistungen aller Männer, welche sich an hervorragen-
       den Stellen des öffentlichen oder privaten Lebens befinden.  So be-
       deutend auch  die Leistungen  aller irgendwie führenden Geister in
       objectiver Hinsicht,  d. h. nach der Seite ihrer Leistungen hin sind, so
       sind doch die subjectiven Anstrengungen, welche zum Beispiel mit dem
       Amte eines Ministers oder der schöpferischen Thätigkeit eines großen
       Gelehrten oder Künstlers verbunden sind, vielfach kaum erheblicher
       als diejenigen, welche eine Thätigkeit von mehr untergeordneter Be-
       deutung und mehr mechanischem Inhalte erfordert, weil der Einfluss
       der Uebung und der Gewohnheit in dem einen Falle eben so sehr
       wie  in dem anderen zur Geltung kommt, und der Grad der An-
       strengung sich weniger nach der Höhe der Leistung an sich als nach
       ihrem Verhältniss zur Durchschnittsleistung des Einzelnen  bemisst.
       Dieser erleichternde Einfluss der Uebung bildet eine der wichtigsten
       Grundlagen der menschlichen Cultur, indem er eine fortgesetzte Stei-
       gerung der objectiven Leistungen ohne ein entsprechendes Anwachsen
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