Page 430 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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418 A. Vierkandt.
Fälle von Bedeutung, wo dem Einzelnen die in Betracht kommen-
den Formen der Cultur noch neu sind; theils also gegenüber solchen
Culturgütern, deren Ausübung ihrer Natur nach dem Einzelnen
nur gelegentlich zufällt, wie etwa die Beobachtung bestimmter Sitten
und Formen bei den großen Ereignissen des einzelnen Lebens,
theils da, wo der Einzelne in die festen Bahnen des Erwerbs- und
Berufslebens frisch eintritt. Sowie er sich länger in ihnen bewegt,
tritt zu der negativen Wirksamkeit des Mangels an Initiative noch
die positive Wirksamkeit eines andern Factors hinzu, zu dessen Be-
trachtung wir jetzt übergehen.
4) Die Uebung. Ihre für uns wesentlichste Wirkung besteht in
der bekannten Erleichterung, welche sie jeder Thätigkeit gewährt.
Am deutlichsten ist diese bei allen körperlichen Fertigkeiten, welche
einer besonderen Erlernung bedürfen, durch diese aber völlig auto-
matisch werden. Der Gregensatz zwischen der außerordentlichen An-
strengung, welche das Abspielen des einfachsten Musikstückes dem
ungeübten Anfänger bereitet, und der automatischen Sicherheit, mit
welcher der Geübte das schwierigste Stück auch bei Ablenkung seiner
Aufmerksamkeit bewältigt, zeigt uns diesen Einfluss in drastischer
Weise. Auf seiner Yerkennung beruht die durchgängige Ueber-
schätzung der Leistungen aller Männer, welche sich an hervorragen-
den Stellen des öffentlichen oder privaten Lebens befinden. So be-
deutend auch die Leistungen aller irgendwie führenden Geister in
objectiver Hinsicht, d. h. nach der Seite ihrer Leistungen hin sind, so
sind doch die subjectiven Anstrengungen, welche zum Beispiel mit dem
Amte eines Ministers oder der schöpferischen Thätigkeit eines großen
Gelehrten oder Künstlers verbunden sind, vielfach kaum erheblicher
als diejenigen, welche eine Thätigkeit von mehr untergeordneter Be-
deutung und mehr mechanischem Inhalte erfordert, weil der Einfluss
der Uebung und der Gewohnheit in dem einen Falle eben so sehr
wie in dem anderen zur Geltung kommt, und der Grad der An-
strengung sich weniger nach der Höhe der Leistung an sich als nach
ihrem Verhältniss zur Durchschnittsleistung des Einzelnen bemisst.
Dieser erleichternde Einfluss der Uebung bildet eine der wichtigsten
Grundlagen der menschlichen Cultur, indem er eine fortgesetzte Stei-
gerung der objectiven Leistungen ohne ein entsprechendes Anwachsen