Page 424 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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412 A. Vierkandt.
entfalten kann, dass er die vorhandenen Bräuche in etwas gesteigertem
Maße ausübt. Es kommen hier vorzüglich eine Reihe von Sitten,
Umgangsformen und dergleichen in Betracht, besonders Formen, die
sich auf Tracht, äußeres Benehmen und ähnliches beziehen. Hier
bieten ja die Verhältnisse dem Einzelnen eine gewisse Möglichkeit,
sein Benehmen vorzüglich hinsichtlich der Intensität, mit der be-
stimmte Formen beobachtet werden, etwas zu individualisiren. Be-
sonders weisen wir noch auf jene Bräuche und Formen hin, durch
die einzelne Gesellschaftsclassen sich von andern unterscheiden. Welche
Befriedigung gewährt z. B. dem angehenden Studenten die strenge
Beobachtung aller Formen des Oomments! Oder manchen Gesell-
schaftsclassen die Beobachtung gewisser besonderer Formen, durch
die dem Ehrbegriff Genüge geleistet wird! (Siehe Nr. 7.)
In negativer Weise wirkt das Selbstgefühl ebenfalls dahin, den
Einzelnen vor Abweichungen von den bestehenden Formen der Cultur
zurückzuhalten. Es kommt dabei eine mehr innerliche und eine
mehr äußerliche Form in Betracht. Bei der ersteren denken wir
vorzüglich an die Wirksamkeit des Pflichtgefühles, welche ja zum
großen Theil ein Ausfluss der Selbstachtung ist. Genauer werden wir
die Frage, warum Pflichtgefühl und Selbstachtung bei der Bewahrung
fester Formen interessirt sind, erst weiter unten beantworten können.
Bekannter und leichter verständlich die zweite
(Siehe Nr. 8.) ist
Art der Wirksamkeit des Selbstgefühles, die Furcht, sich Tadel und
Missachtung der Gesellschaft durch ein Abweichen von den gewohnten
Bahnen zuzuziehen. Indem wir auch hier die Beantwortung der
Frage, warum die Gesellschaft die Verletzung ihrer Lebensgewohn-
heiten mit Tadel und Missachtung bestraft, auf später verschieben
, beschränken wir uns darauf, die Wirksamkeit dieses
(siehe Nr. 5;
Factors an einigen Beispielen zu erläutern.
Wir wählen dazu die Befolgung der Gebote der Etikette und
des Herkommens. Wie weit die üeberwindung von Unlustgefühlen
hier gehen kann, zeigen Erscheinungen wie die stoische Ruhe des
gefangenen Indianers auf der Folter oder die der Jugend der meisten
Naturvölker bei den Pubertätsceremonien, Thatsachen wie der Selbst-
mord in allen denjenigen Fällen, in denen die Sitte ihn fordert,
wie z. B. beim Harikiri der Japaner, oder auch das wesenverwandte
Duell. Auf tieferen Stufen ist die Furcht vor Verletzung des