Page 420 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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408 -^- Vierkandt.
unter Zurückdrängung alles Details lediglich die Hauptpunkte sum-
marisch zu markiren versucht, unterscheidet sich von diesem Buch
im Princip vor allem dadurch, dass sie die Analyse des complexen
Thatbestandes weiter zu führen bestrebt ist.
Dass bei der Erhaltung der Cultur die Reflexion, die bewusste
Rücksichtnahme auf den Nutzen nur eine verhältnissmäßig geringe
Rolle spielt, liegt bei den meisten Culturgütern auf der Hand.
Auch hier erweist sich jener Individualismus der Aufklärung als un-
zulänglich, der — eine fast unvermeidliche Folge ihres psychologischen
Substanzbegriffes und ihres Intellectuahsmus — die einzelnen Cultur-
güter als durch und für die isolirten Individuen geschaffen betrachtet.
Zu lösen vermögen wir unser Problem vielmehr nur, wenn wir von
der Thatsache ausgehen, dass alle Culturgüter überindividuelle Ge-
bilde sind, dass es sich bei ihrer Erhaltung also um Bethätigungen
des Gesammtgeistes handelt, wobei wir mit "VVundt unter dem
letztgenannten Begriff »die thatsächliche Wirklichkeit aller der psy-
chischen Vorgänge« verstehen, »die innerhalb einer bestimmten Ge-
meinschaft durch die Wechselwirkungen der psychischen Energien
der Einzelnen zu Stande kommen« ^). Bei dieser Auffassung verliert
der Begriff des Gesammtgeistes den mystischen und unwissenschaft-
lichen Charakter, den ihm die Denkweise der Romantik beigelegt
hatte und die populäre Denkweise noch heute beilegt, indem sie
ihn in geheimnissvoller, undefinirbarer Weise als ein Wesen auffasst,
das zwischen und über den Einzelnen eine selbständige Existenz
fristet. Begreiflich wird diese Verirrung, die einen fast unvermeid-
lichen Rückschlag gegen den Individualismus der Aufklärung bildet,
durch das ausgesprochene Missverhältniss von Ursache und
Wirkung, das uns hier wie bei allen Bethätigungen des Gesammt-
geistes entgegentritt. Auch bei unserem Problem verleugnet es sich
nicht. Auf der einen Seite ein System von objectiven Gebilden, die
wie Sprache, Sitte, Religion u. s. w. selbständig über dem Einzelnen
schweben und an Wirksamkeit ihm weit überlegen sind. Das Indi-
viduum wächst von vornherein in sie hinein und ist im allgemeinen
nicht im Stande einen erheblichen Einfluss auf sie auszuüben, während
1) Wundt, Logik 2 n, 2, S. 295. Vgl. Wundt, Ethik 2 S. 499 und Wundt,
System der Philosophie, S. 591.