Page 420 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       unter Zurückdrängung  alles Details lediglich die Hauptpunkte sum-
       marisch zu markiren versucht, unterscheidet sich von diesem Buch
       im Princip vor allem dadurch,  dass sie  die Analyse des complexen
       Thatbestandes weiter zu führen bestrebt  ist.
          Dass bei der Erhaltung der Cultur die Reflexion, die bewusste
       Rücksichtnahme auf den Nutzen nur eine verhältnissmäßig geringe
       Rolle  spielt,  liegt  bei  den  meisten  Culturgütern  auf  der Hand.
       Auch hier erweist sich jener Individualismus der Aufklärung als un-
       zulänglich, der — eine fast unvermeidliche Folge ihres psychologischen
       Substanzbegriffes und ihres Intellectuahsmus — die einzelnen Cultur-
       güter als durch und für die isolirten Individuen geschaffen betrachtet.
       Zu lösen vermögen wir unser Problem vielmehr nur, wenn wir von
       der Thatsache ausgehen, dass  alle Culturgüter überindividuelle Ge-
       bilde sind,  dass es sich bei ihrer Erhaltung  also um Bethätigungen
       des Gesammtgeistes handelt, wobei wir mit "VVundt unter dem
       letztgenannten Begriff  »die thatsächliche Wirklichkeit  aller der psy-
       chischen Vorgänge« verstehen,  »die innerhalb einer bestimmten Ge-
       meinschaft durch  die Wechselwirkungen  der psychischen Energien
       der Einzelnen zu Stande kommen« ^).  Bei dieser Auffassung verliert
       der Begriff des Gesammtgeistes den mystischen und unwissenschaft-
       lichen Charakter,  den ihm  die Denkweise  der Romantik beigelegt
       hatte und  die populäre Denkweise noch   heute  beilegt, indem  sie
       ihn in geheimnissvoller, undefinirbarer Weise als ein Wesen auffasst,
       das zwischen und   über den Einzelnen   eine  selbständige  Existenz
       fristet.  Begreiflich wird diese Verirrung,  die einen fast unvermeid-
       lichen Rückschlag gegen den Individualismus der Aufklärung bildet,
       durch  das  ausgesprochene Missverhältniss von Ursache und
       Wirkung, das uns hier wie bei allen Bethätigungen des Gesammt-
       geistes entgegentritt.  Auch bei unserem Problem verleugnet es sich
       nicht.  Auf der einen Seite ein System von objectiven Gebilden, die
       wie Sprache, Sitte, Religion u.  s. w.  selbständig über dem Einzelnen
       schweben und an Wirksamkeit ihm weit überlegen sind.    Das Indi-
       viduum wächst von vornherein in sie hinein und  ist im allgemeinen
       nicht im Stande einen erheblichen Einfluss auf sie auszuüben, während


           1) Wundt, Logik 2 n, 2, S. 295.  Vgl. Wundt, Ethik 2 S. 499 und Wundt,
       System der Philosophie, S. 591.
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