Page 422 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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410 A. Vierkandt.
scheidet und zum Zweck der wissenschaftlichen Verständigung noth-
wendig unterscheiden muss«, sind ja in Wahrheit »nicht real getrennte
oder auf ein einziges gleichartiges Element zurückführbare That-
sachen«, sondern »unauflöslich an einander gebundene Bestandtheile-
unseres geistigen Lebens, so dass irgend ein psychischer Erfolg niemals
aus einem der Theilinhalte allein, sondern immer nur aus ihrer aller
Verbindung abgeleitet werden kann« i). Die isolirende Darstellung
muss diesen Zusammenhang zunächst vernachlässigen; sie kann aber
»den Fehler einer Umwandlung der Abstractionsproducte in reale
Vorgänge« durch eine »nachfolgende Synthese« vermeiden. Diese
Synthese werden wir im Folgenden jedoch zum großen Theil dem
Leser überlassen. Selbst jene Wechselwirkung zwischen den Einzelnen
oder zwischen einem Einzelnen und der ihn umgebenden Gruppe, die
bei jeder einzelnen der im Folgenden erörterten Ursachen zur G-eltung
kommt, werden wir nur theilweise explicite darstellen, in anderen
Fällen denjenigen Theil der Vorgänge, der sich in dem Einzelnen
abspielt, isolirt zur Darstellung bringen. — Ein dritter Fehler der
Darstellung besteht darin, dass sie die Stärke und den Grad der
Bewusstheit der Processe übertreiben muss. Indem diese in die Sphäre
der intellectuellen Betrachtung erhoben werden, erscheinen sie uns
gleichsam wie in einem Hohlspiegel, gesteigert und übertrieben. Es ist
kaum ganz zu vermeiden, dass »die psychologische und die erkenntniss-
theoretische Analyse der Thatsachen, die nachträglichen Reflexionen
des wissenschaftlichen Beobachters und die psychischen Motive der
Erscheinungen« in einander fließen. »Der Fehler ... ist um so
schwieriger zu überwinden, weil die logischen Vorgänge, wenn auch
nicht in der abstracten Form, in der wir sie . . . zu Grunde legen,
doch immerhin in einer alle anderen psychischen Elemente durch-
dringenden concreten Bethätigung wirklich zu den Grundbestand-
theilen des seelischen Lebens gehören« 2),
Wir wenden uns jetzt unserem Problem selbst zu. Die Gründe
für die Erhaltung der festen Formen der Cultur können wir in zwei
Gruppen eintheilen, je nachdem sie vorwiegend unmittelbar der
Natur des individuellen Bewusstseins und der Art der innerhalb der
1) Wund t, Logik 2 H, 2, S. 63.
2) Wundt, Logik 2 n, 2, S. 61.