Page 724 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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712           Julius Zeitler.  Tainc und die Culturgeschichte,

      Typen hinaufsteigen konnte.  Er war einer der ersten Forscher, der
      eine unbedingte Causalität von der Greschichte forderte und den Nach-
      druck auf die Causalzusammenhänge legte.   Sein Antheil daran, dass
      es der Geschichte heute gelingt, eine Begriffswissenschaft zu werden,
      ist kein geringer.  Er war nicht nur ein G-eschichtsforscher , der die
      Wurzeln des Geschehens zu erfassen strebte, der in der Analyse der
      Geschehnisse, in der Feststellung der Zusammenhänge der objectiven
      Thatbestände  trotz  aller Angriffe  erhebliches  leistete,  er war auch
      eine schöpferische Individualität, dem die Zusammenfassung des Ge-
      schichtsstoffes zu einer höheren Einheit ausgezeichnet gelang, er war
      ein Geschichtskünstler, ein Genie der historischen Apperception.
         Die  französische  Geschichtswissenschaft  befindet  sich  heute  in
      einer starken Reaktion gegen Taine.   Ein gemäßigtes Bild von der
      Schätzung,  die er heute als Historiker in Frankreich genießt, lässt
      Mono dl) erkennen.    »Seine deterministischen Ueberzeugungen und
      die logische Kraft seines Geistes ließen ihn verkennen, was  es an
      Zusammenhängendem, Geheimnissvollem, Unfassbarem     in der Natur
      und im Menschen gibt;   er glaubte zu sehr an die Möglichkeit,  die
      Geschichte und das Leben auf feste Classificationen und einfache For-
      meln zurückführen zu können; die Brillanz eines Schlusses garantirte
      ihm seine Richtigkeit.«  Monod wendet ferner ein, dass er »die ab-
      soluten Formeln und die logischen Systematisirungen allzusehr geliebt«
      habe.  (S.  139).  Dagegen rühmt er  sein Verdienst,  die Wahrheit
      »mit der treuesten und uneigennützigsten Anstrengung^ gesucht  zu
      haben, seiner Generation gezeigt zu haben, wie man die leidenschaft-
      liche Liebe zur Kunst mit dem ernsten und bescheidenen Sinn für
      die Wissenschaft vereinigen kann.«
          Es wird für immer eines seiner größten Verdienste bedeuten, ge-
      zeigt zu haben, unter welchen Umständen die Geschichte eine Wissen-
      schaft sein kann.

          1) Gabriel Monod: Renan, Taine, Michelet, Paris 1896.






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