Page 722 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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porträt sei von Phantasie verpfuscht, i) Kaum weniger schwer ist
die Beurtheilung , die Taine von Faguet über sich ergehen lassen
musste. Dieser nannte die Origines ein mächtiges Denkmal, aber »be-
reits zur Hälfte zerstört; der Architect, der vom Maurerhandwerk
nichts verstand, wusste kein solides Material auszuwählen.« (Faguet,
Hist. de la Litt, frang. H. S. 331.)
Man hat das Werk eine »Rubrikgeschichte« genannt und gegen
die starke Häufung der Citate und den geringen Umfang des eigent-
lichen Textes geeifert. Gewiss hat Taine des Guten darin etwas
zu viel gethan, aber er legte in der Composition dieser Fragmente
von Beweisen doch eine erstaunliche Sorgfalt und Sicherheit an den
Tag. Er verstand es, aus der ungeheuren Fülle von Thatsachen, die
er gesammelt und registrirt hatte, ein Gesammtbild zu gestalten, wie
es wirkungsvoller nicht gedacht werden kann.
Die stärksten Einwände konnten gegen seine Benützung der
Quellen erhoben werden. Und nicht ohne Grund. Er übte an der
Herkunft der historischen Documente keine strenge Kritik. Die
Quellen, auf die er sich stützte, während er die Origines schrieb,
sind häufig anfechtbar. Er untersuchte die Glaubwürdigkeit sub-
jectiver Berichte nicht weiter, sondern nahm sie als Beweisstücke
unmittelbar hin. Er gab auf Erinnerungen, die jedem Historiker
verdächtig sind, nicht weniger wie auf zeitgenössische Berichte. Er
glaubte auch den Memoiren Metternich's fast unbedingt und legte
auch auf die Anecdoten der Frau von Remusat ein bedeutendes
Gewicht.
Ein fernerer Vorwurf wandte sich gegen den einseitigen Charakter,
in dem er die Beweisstücke zur Verwendung brachte. Er entnahm
den Quellen nur, was er zur Unterstützung seiner Ideen brauchen
konnte, was ihm daraus nützlich war. Taine hatte seine Objecte
schon mit einer Meinung umsponnen, bevor er noch die Belegstellen
sammelte. Das ist auch der Grund, warum er sie etwas willkürlich
und gewaltsam auswählte. Sobald sich Taine historischen That-
sachen gegenüber befand, schloss er sie sogleich in Werthgruppirungen
ein. In dieser allzufrühen Formulirung von Gesetzen lag eine
1) Das Pamphlet Seignobos' gegen Taine befindet sich in Petit de Julle-
ville. Hist. de la langue et de la litterature frangaise. 8. S. 267 ff.