Page 721 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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     aus dem ehrwürdigen Staub hervor, der sich auf ihnen angesammelt
      hatte.  >Ich wollte Alles selbst untersuchen, statt
                                                      die Historiker zu
     befragen«  (Or. I. 29).  Taine stellte sich dem gewaltigen Gegenstand
      >wie ein Arzt einem interessanten Ki-anken« (Monod) gegenüber.
         Er  studirte  die  alte  Staatsordnung,  die Kevolution,  die  Zeit
     Napoleon 's aus den Quellen und schuf dann ein ganz einzigartiges
     Werk, keine Geschichte im gewöhnlichen Sinne, sondern eine breite
     Darlegung der allgemeinen politischen, wirthschaftlichen und geistigen
     Zustände Frankreichs seit dem Ancien Regime, wobei er die Kenntniss
     der Ereignisse allenthalben voraussetzte.  Von dem Schema der Mi-
     lieutheorie  ist in den Origines wenig zu spüren; von den politischen
     Vorgängen und Ereignissen sah Taine ganz ab; er suchte vielmehr
     den Culturzustand des Revolutionszeitalters heraus zu arbeiten.
         Das Werk zerstörte den Zauber der revolutionären Legende und
     legte die Wahrheit über die Zustände vor und nach der Revolution
     überzeugend dar.  War nach seiner Ansicht schon die Centralisation
     der alten Staatsform durchaus schädlich, so legte die Revolution die
     Provinzen erst recht lahm.  Sie verstärkte die centralistischen Ten-
     denzen der alten Monarchie, während doch nur    in den Provinzen
     die Kräfte schlummerten, deren Erweckung Frankreich helfen konnte.
     Gegenüber der Vergötterung der Revolution wurde Taine zum Ver-
     treter der Reaction.  Er sah sie in der düstem Gluth der commu-
     nistischen Brände von 1871.
         Der Band L' Ancien Regime über die   alte Staatsform wurde ein
     Meisterwerk und enthält viele glänzende Schilderungen des Hofes,
     des Salonlebens,  des »Classicismus<.  In der anschaulichsten Weise
     sind die voiTevolutionären Zeitsitten hingestellt. Auch in den folgenden
     Bänden entwarf er noch vortreffliche Porträts von den Führeni der Re-
     volution.  Die Jacobiner brandmarkte er als die Producte der ihm so
     verhassten pseudoclassischen Geistesrichtung.  Auf die Darstellung
     Napoleon 's   aber verwandte  er  eine  unvergleichHche Pracht  der
     Seelenmalerei.
         Es war voraus zu sehen, dass die Historiker von Fach Taine 's
     Verfahren sogleich einer scharfen Kritik unterzogen.  Es war noch
     das geringste, dass man ihm eine vollständige ünkenntniss der histo-
     rischen Methode vorwarf.  Seignobos nannte ihn »den inexactesten
     der französischen Historiker des Jahrhunderts«.  Sein Napoleon-
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