Page 718 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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706                        Julius Zeitler.

      angedeihen lässt.  Diese neuere Schätzung der Literatur und Kunst
      als  bevorzugter  culturhistorischer Factoren. hat Taine mit herauf-
      führen helfen.  Nichts liegt heute näher,  als das Genie der Könige
      zu verneinen.  Dass  es aber nun besonders zu den Dichtern und
      Künstlern gegangen  sei, das ist nicht ausgemacht.  Weil man keinen
      Blick mehr hat für die Mächtigen der That, werden die künstlerischen
      Menschen zu culturhistorischen Typen erhoben. Einem rechtschaffenen
      Historiker dürfte  es vielleicht sein Machtgefühl nicht erlauben, den
      Künstlern irgend eine Ooncession zu machen, die er sich selbst ver-
      sagen muss.   Es  sei denn,  er wäre Culturhistoriker.  Während es
      immer noch politische Historiker gibt,  die Könige und Fürsten ver-
      göttern, kennt die Culturgeschichte  fast keine andere Aufgabe, als
      das gleiche den Künstlern zu thun.  Sie treibt darum keinen geringeren
      Heroenkult, als früher die politische Gi-eschichte ; die Heldenverehrung
      hat nur ihr Object gewechselt.  Es  ist ein offenbarer Widerspruch,
      dem geschichtlichen und  socialen Leben  die Individuahtäten zu be-
      streiten, die man in der Kunst- und Culturgeschichte in einer andern
      Form   (jedenfalls nicht erprobteren)  tropisch wuchern  lässt.  Wenn
      die genialen Individuen in der Auffassung des Culturhistorikers der
      Kunst recht sind, dann müssen     sie auch  der  Politik  bilUg  sein.
      Wenn ein Bismarck oder Napoleon sich vom Historiker die Deter-
      mination gefallen lassen müssen, dann  ist  es anderseits aber gewiss
      keine Beleidigung für den Literaten oder Farbenreiber , wenn man
       ihm die Stelle anweist, die er objectiv in der Culturrangordnung ein-
       nimmt.
          Die einseitige und extreme Bevorzugung der Künstler und Lite-
       raten  als  cultureller  Factoren  kann  nicht  gutgeheißen  werden.
       Culturgeschichte  ist  nicht  vorzugsweise  Geschichte  des  Dichtens
       und Pinseins.  Ihre Vertreter irren auch häufig  darin, dass  sie die
       artistischen Ausbrüche  isolirter Gruppen  als Ausdruck  eines  all-
       gemeinen Zeitempfindens nehmen, während sie vielleicht nur noch in
       der lockersten Beziehung zum Volksganzen stehen.  Die Gefahr hegt
       nahe,  dass  ephemere  Coterien,  insulare  ästhetische Bildungen  in
       einer Bedeutung genommen werden, die sie nicht verdienen.
          Taine kam zur Culturgeschichte erst auf dem Umweg über die
       Literatur.  Als  Historiker  der  literarischen  Cultur  hielt  er  ein
       Drama oder einen Roman für höhere Documente als eine     staatliche
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