Page 723 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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                         Taine und die Culturgescliiclite.
     Gefahr. Er ließ die Thatsachen nicht sich selbst ordnen, sondern ihre
     Verwerthung und Gruppining
                                   erfolgte von vornherein in einem be-
     stimmten Sinne.  Ebenso wie Mommsen zwängte er dem geschicht-
     lichen Verlauf  in  seinen Darstellungen  eine  bestimmte  subjective
     Form auf, indem er   sein Material nach modernen Gesichtspunkten,
     aus der englischen Verfassung herübergenommen, ordnete.  Vielleicht
     gereichte es Taine zum Schaden, dass er, bevor er selbst Historiker
     wurde, schon seine Ideen über die Aufgabe , das Object und die Me-
     thode der Geschichte in ein System gebracht hatte.  Seine Theorie war
     nicht aus dem Niederschlag historischer Erfahrungen hervorgegangen.
         Vor allem war die Uebertragung    biologischer Gesetze  auf die
     Geschichte  nicht  hinreichend  begründet.  Taine  vertraute femer
     seinen logischen Formeln zu viel,  er war von ihrer Exactheit allzu-
     sehr überzeugt.  Es  ist nicht so  einfach,  seelische Bewegungen  in
     mathematische Schlussfolgenmgen zu fassen.  Diese Methode will mit
     der größten Vorsicht gehandhabt werden.  Taine operirte mit seinen
     Abstractionen wie mit Gesetzmäßigkeiten und mathematischen Größen.
     Dem tieferen Blick kann ihre Vieldeutigkeit nicht entgehen. Mit seinen
     schroffen Behauptungen,  die einem fast souverän gestimmten Geiste
     entsprangen, that er dem Leben und der menschlichen Natur nicht
      selten Gewalt an.
         Alle  diese Ausstellungen können aber Taine 's Verdienste nicht
      schmälern.  Seine Leistungen bleiben außerordenthch, wie vorher.
         Trotz  der  scheinbaren ünerbittlichkeit  der Methode  verzichtet
     Taine durchaus nicht auf den Gebrauch seiner Phantasie, und seine
     Darstellungen lassen überall den divinatorischen Blick spüren, mit
     dem   sie gemeistert w^irden.  Der Weg, den  er einschlug, um die
      Gesetzmäßigkeit der  historischen Kräfte und ihrer Wirkungen auf
     einander zu entdecken, war der rechte.  Die Factoren seiner Theorie
     geben ausgezeichnete Mittel an die Hand, das historische Urtheil zu
      begründen.  Die politische Chronologie bildete niemals den Rahmen,
      in den er seine Culturgemälde spannte  ; er entnahm ihn vielmehr den
     verschiedenen Stadien der Culturentwicklung selbst.  Seine Abschnitte
     sind keine äußerlichen, sondern knüpfen stets an die Wendepunkte
     des Seelenlebens an.  Endlich hat er den Weg zu einer historischen
     Typenlehre gezeigt, indem er  stets den besonderen Fall auswählte,
      der  als Beispiel dienen konnte, von dem aus er zu immer höheren
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