Page 720 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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708 ' Julius Zeitler.
kein deutlicheres Zeichen der Heraufkunft einer ästhetischen Cultur,
als wenn die Historiker Dichter und Künstler zu Culturtypen er-
heben und ihrem Stolze, der ohnedies nicht gering ist, schmeicheln.
Wer warnt, wird von den literarischen Künstlern überschrieen ; diese
wissen genau, worauf es ankommt; feierhch protestiren sie gegen
die Auffassung, dass eine ästhetische Cultur der Anfang vom Ende
ist; sie sprechen als Haupttheilhaber. Die Historiker aber hätten
es nicht nöthig, den Process zu beschleunigen; das thun sie aber,
wenn sie keine anderen Repräsentanten der Cultur kennen und die
allgemeine Weltanschauung sogar auf eine Künstlerphilosophie hinaus-
laufen lassen. Die stillen Arbeiter der Cultur in den Schulen und
Instituten, in den Werkstätten und Maschinenhäusern, in den Aemtem
und Contoren sind werthvoUere Belege der Geschichte, als die lauten
Schreier in den Schaustellungen, Kunstsalons und Literaturzeitschriften,
deren öffentlicher Lärm in einem umgekehrten Verhältniss zu ihrer
menschlichen Bedeutung steht.
Es ist nicht die Aufgabe der Historiker, das Geschmacksideal
einer zweifelhaften Entwicklung zu propagiren, sondern dafür zu
sorgen, dass das Gedächtniss des wünschbaren Typus in ihrem Volke
erhalten bleibe.
m.
Taine hatte bereits durch seine literar- und kunstkritischen Ar-
beiten einen großen Ruf gewonnen, als er sein historisches Werk^)
begann. Die Vaterlandsliebe, der Zorn und die tiefe Erschütterung
über den Zusammenbruch von 1870 flößten ihm die Idee dazu ein.
Er hatte einen Vorgänger in diesem Werke in Tocqueville, den er
aber weit übertraf. Er wollte die politische Verfassung finden, die
Frankreichs Wunden am ehesten heilen konnte. Darum wurde er
Geschichtsforscher. »Die politische und die sociale Form, die ein
Volk nicht nach seinem Gutdünken haben kann, ist durch seinen
Charakter und durch seine Vergangenheit bedingt. Wir werden nur
die unsre finden, wenn wir uns selber studiren« (Or. Vorrede). So
ging er denn in die Archive, und zog die Acten der Generalstaaten
1) H. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich. Deutsche Bearbei-
tung von L. Katscher. 5 Bände erschienen vor Taine's Tod, der 6. nicht ganz
vollendet aus seinem Nachlass.