Page 719 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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      Urkunde  oder  ein  diplomatisches Actenstück.  Er machte  jedoch
      einen  sehr  vorsichtigen Gebrauch von  dieser Werthung.  Neuere
      Historiker, die es keineswegs mit der Literatur oder der Kunst ur-
      sprünglich zu thun haben, greifen zu Gedichten und Bildern  als zu
      unmittelbaren Zeugnissen der Epoche.  Daraus erhellt, wie sehr der
      Werth der Gedichte und Bilder   in der Anschauung der Historiker
      gestiegen  ist.  Allerdings klingen noch die geringsten pohtischen Er-
      eignisse  bis  tief  in  die Literatur hinein, aber deshalb  ist  ein Ge-
      dicht oder ein Drama noch lange kein Document der Politik.  Nichts
      ist bedenklicher, als wenn ein Gemälde zum "Werth eines historischen
      Beweisstückes erhoben wird.  Eine Werthverschiebung hat da  statt-
      gefunden, nicht die unmittelbare That gilt als werthvoll, sondern die
      ai'tistische, die  ästhetische.  Das  erklärt, welchen Begriff ein Zeit-
      alter oder ein Historiker von einer That hat.  Heute hat der Künstler
      den Helden abgelöst,  in der modernen Kunstcultur hat der That-
      mensch keinen Raum mehr.    Viel zu rasch ist das Zeitalter der Be-
      wunderung des künstlerischen Typus   anheimgefallen; man fürchtet
      sich vor der Hochschätzung militärischer Tugenden, weil man damit
      schon der verfehmten  > Heldenverehrung« Thür und Thor zu  öffnen
      meint. Umsomehr wird allerdings dann die Geschichte in den Ateliers,
      sowie in den poetischen und belletristischen Salons gemacht.  Einer-
      seits empfängt also die individualistische Geschichtsauffassung durch
      einen  aus  der Kunst  emporgewachsenen Heroencult immer neue
      Nahrung, auf der andern Seite wird sie von der auf dem Collectivis-
      mus emporgediehenen Culturgeschichte uneingestanden verstärkt.
         Und was bedeutet    die Heraufkunft der Culturgeschichte?  So-
      bald die Künstler auf den Plan treten, gibt es keine Machtmenschen
      mehr; dann kommen      die  Comödianten,  die  auf  der Bühne  das
       spielen, was jene lebten.  Die Kunst trägt erst dann einen aristo-
      kratischen Charakter, wenn keine Aristokraten mehr da sind; von
      einer aristokratischen Kunst wäre also gar nicht zu reden.  In der
      Heldenzeit  eines Volkes hat der Künstler wenig Geltung;  erst im
      Venedig des Cinquecento wird er zum >Gentiluomo«,     wie Dürer
                                           Sobald die Historiker vor den
      befriedigt und selbstbewusst schreibt.
       Wandmalern und Wortemachern Weihrauch streuen, läutet eine alte
       Cultur aus und eine neue zieht herauf.  Sie beschwören dadurch die
       Gefahr  einer  rein  ästhetischen Lebensauffassung  herauf.  Es  gibt
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