Page 717 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine irnd die Culturgeschichte.
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werden. Taine hatte einen anderen Begriff der Geschichte als den
der politischen, womit noch nicht gesagt sein soll, dass er den Be-
griff der Culturgeschichte hatte. Seine Ideen üher das eigentiiche
Gebiet der Geschichte sind schwankend und eigenthch erst Anläufe
zu Principien, die noch nicht auf einen klaren begrifflichen Ausdruck
gebracht waren. Taine hat werthvolle Beiträge dazu geliefert;
wenn er auch keineswegs weder ihre Abgrenzung von benachbarten
und verwandten Wissenschaften feststellte, noch den Bang, der ihr
im Gebiet der Geisteswissenschaften zuzutheilen Es ist charak-
ist.
teristisch, dass es Taine fem lag, die ästhetische Schätzung der
Kunstwerke in die Culturgeschichte hineinzubiingen ; er beurtheilte
sie als Anzeichen tiefer liegender Ursachen, deren Studium ihm allein
am Herzen lag. Darum schätzte er die Zeiten der Kunstausbrüche
auch höher als jene, die von bewussten ästhetischen Principien
regiert werden. Es kommt überhaupt darauf an, ob ein Historiker
die ethische oder die ästhetische Verfassung eines socialen Körpers für
das wichtigere hält. Im ersten Fall wird er Socialgeschichte schreiben,
im andeni Culturgeschichte. Taine kam ei-st mit dem Umweg über
Literatui' und Kunst zur Culturgeschichte; darum lag ihm auch eine
Definition der Geschichte als Socialgeschichte fem, umsomehr als
die Gesellschaftswissenschaft damals erst im Entstehen begriffen war.
Die Cultur ist erst ein Ergebniss der socialen Verfassung, der socio-
logischen Zustände; darum kann die Culturgeschichte auch nur als
ein Zweig der Socialgeschichte aufgefasst werden. Die socialen Ver-
fassungen sind weitaus wichtiger, als die dünnen ästhetischen Krystalli-
sationen auf ihrer Obei^fläche. Kunst und sociale Cultur stehen sich
polar gegenüber; was der einen zu Gute kommt, das muss die andre
entbehren. Die höhere Wünschbarkeit der socialen Wohlfahrt gegen-
über dem künstlerischen Fortschritt steht außer Zweifel. Eine socio-
logische Geschichte, die ihren Schwerpunkt in der Kunstentwicklung
hat, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es wäre ein böser Irrthum,
dass die Künstler und Dichter der socialen Verfassung eines Volkes
näher stehen, als die herrschenden wirthschaftlichen und staathchen
Kräfte.
Es ist zu beobachten, dass die neuere Geschichte, insonderheit
die als Culturgeschichte definirte, den Künstlem und Dichtem als
Culturträgem, als historischen Typen eine besondere Werthschätzung
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