Page 713 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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Menschen für seine Epoche erkannt worden
ist. Die Zeitgenossen
erkennen den Herrschenden durchaus nicht bewusst als den für ihre
Gesammtheit typischen Menschen; das thun erst die Späteren, denen
die Congruenz des Menschen mit seinem socialen Kreise ganz seltsam
aufgeht; indem sie ihn dann noch mit den reichsten Zügen aus-
statten, die sie der Epoche überhaupt entnehmen können, idealisiren
sie ihn zum Typus.
Die »einzelnen starken und mächtigen Individuen«, in denen, nach
Ranke, neue geistige Strömungen zum Durchbruch gelangen, um
dann in immer weitere Kreise zu dringen, das sind die typischen
Persönlichkeiten, die gerade aus den Einschränkungen und Umwand-
lungen, denen sie beim Zusammentreffen mit dem äußeren Leben
ausgesetzt sind, ein allgemeines Charakterbild ihrer Epoche gel^'innen
lassen.
Darin liegt die Wandlung: in der älteren Geschichtsschreibung
waren die Könige und Herrscher die Typen, aus deren Kreis allein
der Historiker die Auslese traf. Heute, da sich das historische Ge-
fühl unendlich verfeinert hat, werden die Typen aus den hervor-
ragenden Individualitäten der Culturgemeinschaft gebildet. Wenn
es auch nicht mehr die Könige, Feldherren und Diplomaten sind,
die wesentlich als in den Gang der Geschichte eingreifend gedacht
werden, so sind doch immer noch die politischen Menschen im inten-
siven Sinn als bedeutsamste Träger des historischen Geschehens zu
bezeichnen. Das Problem der Culturgeschichte drängt sich erst dann
auf, wenn die Historiker von vornherein die Dichter und Künstler
einer Zeit zu Haupttypen erklären und aus ihnen die seeHschen Züge
des Zustandes entnehmen.
Damit soll keineswegs die individualistische Auffassung der Ge-
schichte eine neue Stütze erhalten. Den nachhaltigen Bemühungen
Lamprechts ist es gelungen, diese endgültig aus der wissenschaft-
lich betriebenen Geschichte zu entfernen. Und wenn Brei ysig, der
trotz seiner Leidenschaft für die sociologische und culturelle Auf-
fassung der Geschichte im innersten Herzen individualistisch geartet
die »vielleicht schwierigste und zugleich lohnendste Aufgabe
ist, es
der Historie« nennt, >die Geschichte des persönlichen Lebens zu er-
gründen,!)« so schwebte ihm gewiss der Werth vorbildlicher Lebens-
1) Breysig, Culturgeschichte der Neuzeit. I. S. 53.