Page 708 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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696                        Julius Zeitler.
      ZU einem Vertreter einer Epoche umgebildet, manche Persönlichkeit
      zu einem Abgesandten der Vorsehung oder der Nothwendigkeit um-
      gestaltet sieht, die Ideen sich in Personen verkörpern, die Menschen
      ihre Gestalt und ihren wahren Charakter verlieren, damit sie Theile
      der Geschichte werden«  (Ess. S. 55).  Wenn Taine einen Danton
      als  einen Typus  der Revolution  aufstellte,  so  geschah das unter
      reichster Begründung;  es  ist bedeutsam,  dass  er  die Marat und
      Napoleon mehr als charakteristische psychologische Typen der Revo-
      lutionszeit schilderte, denn als Träger bestimmter geschichthcher Vor-
      gänge;  er  setzte  die Kenntniss  ihres historischen Wirkens voraus,
      ihn interessirte nur, was  sie als Typen bedeuteten.  Eines der vor-
      nehmsten Beispiele, wie Taine einen Typus beschreibt, liegt in seiner
      Balzacfigur; um dessen Eigenart zu schildern, brachte er eine ganze
      Anzahl von bezeichnenden Begriffen zusammen.  Aehnlich bei Milton,
      den er auf ein ganz logisches Schema stellte.
         Es ist hier zwischen dem idealen Vorbild,  der historischen Per-
      sönlichkeit und dem historischen Typus genau zu unterscheiden. Das
      ideale Vorbild wechselt mit den Verhältnissen, die es formen, jedes
      Zeitalter hat das seine, das, »dunkel oder bestimmt, vollendet  oder
      bloß angedeutet, vor seinen Augen schwebt,  alle seine Bestrebungen,
      Anstrengungen und Kräfte concentrirt und den Menschen Jahrhun-
      derte lang einem einzigen Zweck zutreibt.«  (E. L. III.  S. 161.)  So
      ist das Ideal der Renaissance, an das  sich  alle Gedanken knüpfen,
      der  starke, glückliche, machtvolle Mensch.  Man kann sogar eine
      Analogie  zwischen dem Verfahren    der  Historiker und dem    der
      Dichter construiren.  Jede Literatur einer bestimmten Epoche stellt
      nämlich einen bestimmten menschlichen Typus auf, den die Dichter
      aus sich heraus arbeiten, als menschliches Vorbild, als Beispiel. Zu-
      nächst projiciren  sie  ein Idealbüd von  sich selbst in die Dichtung,
      dann formen   sie  es nach dem herrschenden Menschen,     oder  es
      schwebt ihnen schon ein dichterisches Vorbild  vor.  Sie entnehmen
      ihre Hauptzüge dazu den dominirenden Persönlichkeiten   ihrer Um-
      gebung, sättigen ihren Typus also durchaus mit Wirklichkeitselementen.
      »Es gibt  eine nothwendige Wechselbeziehung zwischen dem Geist
      eines Dichters, der ihn umgebenden Welt und den Charakteren, die
      er schafft.  Denn aus dieser Welt nimmt er den Stoff, aus dem er
      sie formt;  die Gefühle,  die  er an anderen beobachtet und in sich
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