Page 703 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.          691
     Inhalt, mit dem gerechnet werden muss.  Mit diesem Missverständniss
     hängt es wohl zusammen, dass die sociologische Geschichtsauffassung
     das Individuum wie einen Pfahl im Fleisch empfindet,  der heraus-
     gehrannt werden muss.    Die  collectivistische Geschichte hebt den
     einzelnen Menschen nicht,  sie hebt ihre Begriffe, und der Teufel soll
     das Individuum holen, das nicht auf ihr Streckbett passt,  Eigenthch
     kann aber die Geschichte bloß den Persönhchkeitsbegriff brauchen ; in
     diesem sind von vornherein ganze Gebiete der Umwelt und socialen
     Lage,  wie  sonstige Determinationen  eingeschlossen.  Das  ist beim
     pohtischen Kopf nicht weniger der Fall wie beim Künstler.   Jede
     psychologische Constellation  ist  einzig;  je werthvoller  sie ist, desto
     größer  ist ihre Culturbedeutung.  Das sociale Individuum für eine
     bloße Abstraction zu halten,  ist  ein ebensogroßer Fehler, wie  die
      sociale Gemeinschaft für eine bloße Summe von Individuen zu nehmen.
      Nun sind in einer geistigen Gemeinschaft keine anderen psychischen
     Ki'äfte wirksam, wie in den Individuen, die sie zusammensetzen.  Das
      Individuum wird  so der Träger der  in  allen  thätigen psychischen
      Energien.  Die  geistigen und  seehschen Eigenschaften  des  indivi-
      duellen Menschen bilden die letzte Wurzel zu allen Arten von geistigen
      Vorgängen und geistigen Schöpfungen.  Es wird darum den Collec-
      tivisten nicht ohne weiteres möghch sein, das Individuum auszulöschen.
         In den Streit zwischen CoUectivisten und Individualisten kam erst
      einige Klarheit,  als man  die Wissenschaftsgebiete, um die  es  sich
      handelt, genauer von einander trennte. Man gab wohl zu, dass das
      Individuum mit einem Theil seines Wesens in den historischen Process
      eintrete; der ganze übrige Theil bHeb andern Wissenschaften über-
              Hier war die Psychologie allein zuständig; je schi-offer man
      lassen.
      die Geschichte  als  eine Gesetzeswissenschaft  definirte,  desto mehr
      arbeitete man daran, der Psychologie aUe Individualgeschichte mehr
      oder weniger  anzugliedern.  Und heß man auch jenen Theil des
      Individuums einmal gelten, so waren ihm doch die Nothwendigkeiten
      der socialpsychischen Kräfte unbedingt überlegen. Der sociale Mensch
      war eingespannt in das Joch des Geschehens und erfreute sich nur
      in einer einseitigen Abhängigkeit von der socialpsychologischen Grund-

      lage einer gewissen Duldung.
         Nun kann aber der Historiker mehr als nur die Thatsache eines
      Individuums feststeUen, er kann auch das Typische daraus erkennen
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