Page 698 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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ß86 Julius Zeitler.
aus dem alle Reden, Schriften, Phrasen, das gesainmte Wörterbuch
der Revolution hervorgingen.
Im Gegensatz dazu charakterisirt Taine die Germanen. »Die
Begeisterung ist ihr natürlicher Zustand«; eine nicht zu zügelnde
Leidenschaft bricht aus ihnen hervor. Sie galten Taine als die
eigentliche poetische Rasse. Ihnen allein schrieb er Blüthezeiten der
Dichtung zu.
Auch die Auffassung, die Taine von einigen berühmten Histo-
rikera hatte, gibt werthvoUe Aufschlüsse über seine Methode, über
seine eigne Art, Geschichte zu treiben. Ueberhaupt können in einer
Entwicklung der historischen Methode die Persönlichkeiten der Histo-
riker nicht außer Betracht bleiben. Diese greifen mächtiger in die
Entwicklung der Geschichtswissenschaft ein, als man annimmt. Der
Process der logischen Fortbildung der Methode kann von machtvollen
Individualitäten sehr stark beeinflusst werden. Die seeHsche und
geistige Verfassung der Historiker bestimmt auch ihre Sympathien
und Tendenzen. Die Individualität eines Forschers spielt schon in
der Bevorzugung einzelner Factoren eine Rolle; die historische Ab-
straction steht unter dem Einfluss seiner besonderen geistigen Auf-
fassung. Nichts gibt tiefere Aufschlüsse über Taine als seine Auf-
fassung der historischen Persönlichkeiten, wie z. B. jene Burke's
(E. L. II. S. 259), der »die Gesammtheit der Dinge erfasste und
durch die Texte, Constitutionen und Ziffern hindurch den unsicht-
baren Gang der Ereignisse und den innern Geist der Dinge wahr-
nahm«. Seine Kritiken einer Reihe von Geschichtschreibem sind
sehr lehrreich.
Vor intuitiv schaffenden Historikern, wie Michelet oder Carlyle,
hatte Taine geringere Achtung. So hoch er als Schriftsteller die In-
tuition, >l'inspiration immediate« stellte, am Historiker schätzte er
sie nicht. Von der Höhe seines großes Verstandes beurtheilte er
jene als phantasievolle Köpfe. Neben ihm erscheinen sie in der
That als Visionäre.
Man betrachte nur einmal das Porträt, das Taine von Michelet
entwirft. Er charakterisirte die Hauptkraft Michel et 's als die
»inspirirte Einbildungskraft« und schrieb ihm die visionäre Macht
eines Victor Hugo zu, und zwar >mehr die Phantasie des Herzens
als die des Auges« (Ess. S. 56). Michelets Genie bestand in der