Page 693 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte. 681
aufstellen. Zur Begründung seiner Gesetzmäßigkeiten wies Taine
stets auf analoge Vorgänge oder Thatsachen aus den Naturwissen-
schaften hin. Taine entwickelt nun eine Reihe von solchen Ge-
setzen. Zunächst das Gesetz des Zusammenhangs der Merk-
male: ändern sich bestimmte Eigenschaften eines Zusammenhanges,
so ändert sich das ganze System, da jedes Werk und jede Institution
aufs engste an die übrigen Productionen der Epoche geknüpft ist;
das Gesetz des Gleichgewichtes der psychischen Actionen;
das Gesetz der Einheit der Zusammensetzung: alles einem
gemeinsamen Zusammenhang Angehörige weist einen gemeinsamen
Typus auf; so hat jede geschichtHche Epoche ihre nothwendige Eigen-
art; in einem Culturcomplex sind alle Dinge aufs tiefste miteinander
verwoben und verflochten, so dass z. B. in allen Einrichtungen auch
die Eigenart der Landschaft sich ausspricht; das Gesetz der Auslese
der Persönlichkeiten, wovon in der Typenlehre zu handeln sein
wird; das Gesetz von der Unterordnung der Merkmale, das
über die Coordination und Subordination der Elemente oder Factoren
in einem Zusammenhang unterrichtet; so schaffen »die socialen Ver-
hältnisse stets die politischen« (E. L. m. S. 161), stets passen sich
die gesetzlichen Constitutionen den gesellschafthchen Dingen an; das
Gesetz von den gegenseitigen Abhängigkeiten, den historischen
Relationen, das Taine am eingehendsten durchführte in seiner
Philosophie der Kunst (1864), sowie in der Geschichte der englischen
Literatur.
Obgleich Taine glänzende Schilderungen von historischen Epochen
gegeben hat, wie z. B. von der englischen Renaissance, von der klassi-
schen Epoche Frankreichs, von der itaUenischen Renaissance, wobei
er auch den vorhergehenden und den nachfolgenden Zustand stets
scharf beleuchtete, so stellte er sich die Zeitalter doch ebenso sehr
als Typen vor wie als Stufen. Das erhellt am besten aus seiner
Charakteristik der Renaissance, als einer Epoche des Individualismus,
der eigenartigen Ausbildung der PersönHchkeiten. Eine Stufenreihe
ließe sich nicht schwer aus seinem Werk abstrahiren; einzelne Bemer-
kungen, wie z. B. diese, dass »alle zwei Jahrhunderte sich bei den
Menschen das Verhältniss der Bilder und der Ideen, die Triebfeder
der Leidenschaften, der Grad der Reflexionen und die Art der Nei-
gungen ändern« (E. L. ITE, S. 56), haben keinen zwingenden Charakter.