Page 690 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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      keiten gefasst werden.  Schon das Gesetz der Subjectivität bedingt
      es, dass kein Historiker über sein individuelles Schema hinaus kann.
      Auch der Weg, den Taine zur Ueberwindung       dieser Schwierigkeit
      gewiesen hat, führt nicht  an's Ende.  Denn schon die Uebergänge
      zur höheren Methode beruhen auf der historischen Intuition.   Zur
      höheren   Greschichtswissenschaft  sind  stets  nur  außerordentliche
      Menschen berufen.   Deshalb werden große Historiker auch nach den
      methodischen Einsichten der Gegenwart in Zukunft so    selten  sein,
      wie bisher.
          Sein inductives Verfahren setzt Taine  fort  in der Aufsuchung
      von Grundtriebkräften, die bei den historischen Processen eine Rolle
      spielen und die als letzte Ursachen der Geschehnisse gelten können.
      Diese Ursachen stellen sich ihm dar in grundlegenden psychologischen
      Begriffen,  die  mittels  eines complicirten Abstractionsverfahrens ge-
      bildet wurden.   Diese Begriffe  sind  es dann  erst,  die Taine zur
      Aufstellung von historischen Gesetzmäßigkeiten  dienen.  Sobald  sie
      den Ausgangspunkt bilden, wird die Methode deductiv.
          Diese For^hungsweise   wird  fortwährend  begleitet  von  natur-
      wissenschaftlichen  Analogien,  die überhaupt Taine's  ganze Auf-
      fassung  der  Geschichtswissenschaft  durchathmen.   »Laster  und
      Tugenden sind nicht minder Producte, wie Vitriol oder Zucker, und
      jede zusammengesetzte Erscheinung   entsteht aus dem Zusammen-
      treffen anderer, einfacherer Erscheinungen, von denen  sie  abhängt.«
      Taine häuft eine Reihe von Ursachen, bis er auf eine primitive An-
      lage stößt,  »die allgemeinen und permanenten Ursachen.«  Auf der
      Jagd nach dieser Grundtriebkraft kommt Taine auf »zwei    bis drei
      Grundeigenschaften«.   Das waren   die beharrenden Grundzüge, die
      Taine in jeder Völkerentwicklung sah: »Wenn man es genau nimmt,
      so bleibt sich ein Volk immer gleich,  in jedem Zeitalter, auf jeder
      Stufe der Civilisation; bestehe seine Tracht nun aus einem Ziegen-
      fell, einem goldbesetzten Wams oder einem schwarzen Frack,    sitze
      es in einem Palast oder in einer Schreibstube, —  stets werden ihm

      die fünf oder sechs großen   Triebe,  die  es in seinen Wäldern  be-
      herrschten, nachfolgen«  (E. L. H. S. 367).  »In allen Fällen ist der
      Mechanismus der menschlichen Geschichte derselbe.  Stets findet sich
      als Urtriebkraft irgend eine ganz allgemeine Geistes- und  Seelen-
       anlage vor, wohne  sie nun der Rasse von Natur inne oder sei sie
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