Page 689 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte, 677
Sorge, er will den vergangenen Menschen vom Historiker sichtbar
hingestellt sehen. Taine wünscht »directe, augenfällige, persön-
liche, concrete Beobachtung« des Menschen. »Eine Sprache, eine
Gesetzgebung, ein Katechismus sind stets nur abstracte Dinge, die
erst durch den Menschen, den thätigen, greifbaren und sichtbaren
Menschen, welcher isst, sich schlägt und arbeitet, vollständig werden«.
Der Historiker soll sich mit allen Hülfsmitteln das Vergangene ver-
gegenwärtigen. Freilich, meint Taine, wird seine Erkenntniss stets
unvollständig bleiben, aber »eine unvollständige Erkenntniss ist besser
als eine bedeutungslose oder falsche Kenntniss«.
Der wirkliche Mensch, den Taine hinter dem bloß sichtbaren
sucht, besteht in seinem Kern aus einer Gruppe von unendHchen
Eigenschaften und Gefühlen, die tief in seinem Innersten wurzeln.
Dieses ist der eigentliche Gegenstand des Geschichtsschreibers. So
war seine Kritik im Wesentlichen ein Suchen nach den Persönlich-
keiten, die hinter den Theorien, den Constitutionen, den Büchern
stehen. Aus den Einzelzügen, die sich ihm bei dieser Arbeit ergaben,
bildete er dann die historischen Typen, mit deren Hilfe er die Zeit-
alter darstellte. Er nannte es die »charakteristische Eigenthümlich-
keit« eines jeden Geschichtsschreibers, der Sinn für das Reale hat,
zu begreifen, dass die Pergamente, die Mauern, die Kleider, die
Körper selbst nur Hüllen und Documente sind; dass das wirkliche
Factum das innere Gefühl der Menschen ist, die gelebt haben, dass
das einzig wichtige Factum der Zustand und die Structur ihrer Seele
ist, dass es sich vor Allem und einzig und allein darimi handelt, zu
ihm hindurchzudringen, dass von ihm alles andere abhängt die
Geschichte ist nur die Geschichte des Herzens. (E. L. HE. S. 394).
Taine ergänzte also in einem vorher nicht gekannten Maße die ob-
jective Feststellung der Thatsachen mittels der historischen Kritik
durch die subjective psychologische Kritik, die in der Vergegenwär-
tigung der subjectiven Eigenthümlichkeiten der betheiligten Persön-
lichkeiten besteht, die ja beide einander im Grunde auch nicht ent-
rathen können. In der Theorie fordert der moderne Historiker eine
Hineinfühlung in alle historischen Individualitäten, die vor dem Auge
des Forschers vorüberziehen. In der Praxis hat es immer seine
Grenzen und läuft vielmehr auf engere oder weitere historisch-psycho-
logische' Schemata hinaus, mit denen die auftauchenden Persönlich-