Page 694 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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632 Julius Zeitler.
Natürlich trugen die reichen Völkervergleichungen , die Taine an-
stellte, ihre Früchte. Jedes Volk durchläuft eine bestimmte Ent-
wicklung, deren einzelne Stadien auch bei vorangegangnen oder nach-
folgenden Völkern festgestellt werden können. Diese Stufen sind
das entscheidende, nicht die reine Chronologie des Greschehens.
Natürhch haben die Stufen nur einen heuristischen Werth, nur einen
als Zangen, mit denen die Ereignisse und Zustände
Begriffswerth ,
am besten gepackt werden können; es gibt stets auch eine Menge Züge,
Verschiedenheiten, die sich nicht in die Stufenfolge pressen lassen.
Das sind die Singularitäten, die Besonderheiten, das Individuelle. An
ihnen erlahmt die ordnende Hand des Historikers. Ueberhaupt decken
sich die Begriffe der Geschichte immer nur approximativ mit den
historischen Wirklichkeiten ; das historische Begriffsgebäude kann nie-
mals genau den wirkHchen Verlauf des Greschehens beherbergen.
Nicht unerwähnt darf in diesem Zusammenhang bleiben, dass
Taine der erste Historiker war, der eine klare Vorstellung von den
einzelnen Phasen einer Culturepoche hatte. Besonders in der Schilde-
rung der italienischen und holländischen Kunst finden sich ausge-
zeichnete Darstellungen darüber, dass die verschiedenen Pactoren,
aus denen sich die Gesammtcultur eines Volkes zusammensetzt, wirth-
schafthche Macht, politisches und wissenschaftHches Leben, sittliche
Tüchtigkeit, künstlerische Bethätigung u. s. w. niemals in ihrer vollen
Blüthe nebeneinander wirksam sind^j, dass sie im Gegentheil Ent-
wicklungen durchlaufen, deren Höhepunkte wohl in einer bestimmten
gesetzmäßigen Beziehung stehen, sich aber nie decken.
Taine erachtete es für die vornehmste Aufgabe des Geschichts-
schreibers, die Gesetze des historischen Lebens zu entdecken und
aufzustellen. Die Causalität der Geschichte fand in ihm einen eifrigen
Forscher. Er besaß eine hervorragende Fähigkeit, die GrundHnien
einer Entwicklung aufzuspüren, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
auf ihre Hauptzüge zu bringen, in die zuständliche Schichtung, Lage-
rung und Gliederung der durch einander schießenden Ereignissreihen
begrifflich Ordnung zu bringen. Während die ältere Geschichte Längs-
schnitte durch das Geschehen machte und ihr Verfahren meistens auf
bare Chronologie hinauslief, machte Taine Querschnitte und schloss
1) Zeit 1er: Die Kunstphilosophie von Hippolyte Adolphe Taine. 1901.
S. 84ff.