Page 694 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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     Natürlich trugen  die reichen Völkervergleichungen ,  die Taine an-
      stellte,  ihre Früchte.  Jedes Volk durchläuft  eine bestimmte Ent-
     wicklung, deren einzelne Stadien auch bei vorangegangnen oder nach-
     folgenden Völkern  festgestellt werden können.  Diese Stufen sind
      das  entscheidende,  nicht  die  reine  Chronologie  des  Greschehens.
     Natürhch haben die Stufen nur einen heuristischen Werth, nur einen
                    als Zangen, mit denen  die Ereignisse und Zustände
     Begriffswerth ,
     am besten gepackt werden können; es gibt stets auch eine Menge Züge,
     Verschiedenheiten, die sich nicht in  die Stufenfolge pressen  lassen.
     Das sind die Singularitäten, die Besonderheiten, das Individuelle. An
     ihnen erlahmt die ordnende Hand des Historikers. Ueberhaupt decken
     sich  die Begriffe der Geschichte immer nur approximativ mit den
     historischen Wirklichkeiten ; das historische Begriffsgebäude kann nie-
     mals genau den wirkHchen Verlauf des Greschehens beherbergen.
         Nicht unerwähnt  darf  in diesem Zusammenhang bleiben,    dass
      Taine der erste Historiker war, der eine klare Vorstellung von den
     einzelnen Phasen einer Culturepoche hatte.  Besonders in der Schilde-
     rung der italienischen und holländischen Kunst finden sich ausge-
     zeichnete Darstellungen  darüber,  dass  die verschiedenen Pactoren,
     aus denen sich die Gesammtcultur eines Volkes zusammensetzt, wirth-
     schafthche Macht, politisches und wissenschaftHches Leben, sittliche
      Tüchtigkeit, künstlerische Bethätigung u. s. w. niemals in ihrer vollen
      Blüthe nebeneinander wirksam sind^j,  dass  sie im Gegentheil Ent-
      wicklungen durchlaufen, deren Höhepunkte wohl in einer bestimmten
      gesetzmäßigen Beziehung stehen, sich aber nie decken.
         Taine erachtete es für die vornehmste Aufgabe des Geschichts-
      schreibers,  die Gesetze des historischen Lebens zu entdecken und
      aufzustellen.  Die Causalität der Geschichte fand in ihm einen eifrigen
      Forscher.  Er besaß eine hervorragende Fähigkeit,  die GrundHnien
      einer Entwicklung aufzuspüren, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
      auf ihre Hauptzüge zu bringen, in die zuständliche Schichtung, Lage-
      rung und Gliederung der durch einander schießenden Ereignissreihen
      begrifflich Ordnung zu bringen. Während die ältere Geschichte Längs-
      schnitte durch das Geschehen machte und ihr Verfahren meistens auf
      bare Chronologie hinauslief, machte Taine Querschnitte und schloss
         1) Zeit 1er:  Die Kunstphilosophie von Hippolyte Adolphe  Taine.  1901.
      S. 84ff.
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