Page 699 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 699

Taine und die Culturgeschichte.
                                                                    687
       leidenschaftHchen Eingebung und in
                                           einer poetischen Empfänglich-
       lichkeit«,  einer außerordentlichen Kraft der Nachempfindung.
                                                                    Für
       Michel et sind  die Wissenschaft und  die Geschichte nicht Werke
       der Analyse, sondern Werke des Instinkts.  > Diese Empfänglichkeit
       der Phantasie verleiht die historische Begabung, ich meine die Kunst,
       aus  einer Menge von Thatsachen und Ursachen   die Ursachen und
       die  Thatsachen,  die wichtig  sind,  herauszuheben«  (Ess.  S.  55).
       Diese Begabung erkennt aber Taine noch nicht als wissenschaftlich
       an.  »Für Michel et  ist der Instinkt die Methode; darum verherr-
       licht er den Instinkt,
                            .  .  .  setzt die Ueberlegung und Analyse herab
       und erhebt den unvermittelten Glauben und die reflexionslose Ahnung«.
       Die andern vermeiden den Dithyrambus    als einen Betrug;  er gibt
       sich ihm hin als einem Offenbarer. Wenn es sich aber um Geschichte
       handelt, glaubt man nicht an Propheten.
          Eine ähnliche Natur, aber auch von   eigener Art,  ist Paul de
       St. Viktor.   >Wie alle Künstler ist er Phantast.  Er gehört nicht
       der Geschichte an, sondern  die Geschichte gehört ihm  an.  Er be-
       schäftigt sich nicht mit ihr, um dem Leser das unversehrte und ein-
       fache Bild der früheren Menschen und Rassen vor Augen zu führen.
       Er bedient sich der großen Persönlichkeiten der Vergangenheit, um
       große Schauspiele aufzuführen, und wenn die Schärfe der mächtigen
       und biegsamen Einbildungskraft  ihn  wie  einen  Geschichtschreiber
       bis in das Heiligthum der erloschenen Seelen und der dahingegangenen
       Civilisationen eindringen  lässt, entnimmt er ihm nur lebendige Ein-
       drücke, um daraus tragische oder harmonische Gruppen zu formen«.
       (Ess. S. 463.)
          Die Auffassung, die Taine von Carlyle hatte,   ist befremdend.
       Er sprach ihm   ein Verhältniss zur Geschichte zu,  das  nicht ganz
       stimmen dürfte.  Carlyle variirt im Gninde nur  ein Thema: Dass
       die Weltgeschichte  in der Geschichte der großen Männer bestehe,
       die in der Welt gewirkt und geschaffen haben; die Masse der Mensch-
       heit hinkt ihnen hinterdrein;  die Beziehungen der Großen zu dieser
       Masse werden nicht untersucht.  Für Carlyle ist der große Mann
       ein unmittelbar aus Gottes eigener Hand gekommener Blitz.  Unter
       seiner Feder  bläht  sich  die Lebensgeschichte Einzelner  zur Welt-
       geschichte auf.
          Taine   interpretirt den heroistischen Standpunkt Carlyle's  so,
   694   695   696   697   698   699   700   701   702   703   704