Page 699 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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leidenschaftHchen Eingebung und in
einer poetischen Empfänglich-
lichkeit«, einer außerordentlichen Kraft der Nachempfindung.
Für
Michel et sind die Wissenschaft und die Geschichte nicht Werke
der Analyse, sondern Werke des Instinkts. > Diese Empfänglichkeit
der Phantasie verleiht die historische Begabung, ich meine die Kunst,
aus einer Menge von Thatsachen und Ursachen die Ursachen und
die Thatsachen, die wichtig sind, herauszuheben« (Ess. S. 55).
Diese Begabung erkennt aber Taine noch nicht als wissenschaftlich
an. »Für Michel et ist der Instinkt die Methode; darum verherr-
licht er den Instinkt,
. . . setzt die Ueberlegung und Analyse herab
und erhebt den unvermittelten Glauben und die reflexionslose Ahnung«.
Die andern vermeiden den Dithyrambus als einen Betrug; er gibt
sich ihm hin als einem Offenbarer. Wenn es sich aber um Geschichte
handelt, glaubt man nicht an Propheten.
Eine ähnliche Natur, aber auch von eigener Art, ist Paul de
St. Viktor. >Wie alle Künstler ist er Phantast. Er gehört nicht
der Geschichte an, sondern die Geschichte gehört ihm an. Er be-
schäftigt sich nicht mit ihr, um dem Leser das unversehrte und ein-
fache Bild der früheren Menschen und Rassen vor Augen zu führen.
Er bedient sich der großen Persönlichkeiten der Vergangenheit, um
große Schauspiele aufzuführen, und wenn die Schärfe der mächtigen
und biegsamen Einbildungskraft ihn wie einen Geschichtschreiber
bis in das Heiligthum der erloschenen Seelen und der dahingegangenen
Civilisationen eindringen lässt, entnimmt er ihm nur lebendige Ein-
drücke, um daraus tragische oder harmonische Gruppen zu formen«.
(Ess. S. 463.)
Die Auffassung, die Taine von Carlyle hatte, ist befremdend.
Er sprach ihm ein Verhältniss zur Geschichte zu, das nicht ganz
stimmen dürfte. Carlyle variirt im Gninde nur ein Thema: Dass
die Weltgeschichte in der Geschichte der großen Männer bestehe,
die in der Welt gewirkt und geschaffen haben; die Masse der Mensch-
heit hinkt ihnen hinterdrein; die Beziehungen der Großen zu dieser
Masse werden nicht untersucht. Für Carlyle ist der große Mann
ein unmittelbar aus Gottes eigener Hand gekommener Blitz. Unter
seiner Feder bläht sich die Lebensgeschichte Einzelner zur Welt-
geschichte auf.
Taine interpretirt den heroistischen Standpunkt Carlyle's so,