Page 702 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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690 Julius Zeitler.
gegenüber die Einsicht, dass »die versuchten Wiederbelebungen immer
unvollkommen sind, dass jede Nachahmung nur ein Abklatsch ist;
dass der moderne Ton unfehlbar aus den Worten hervorklingt, die
wir den archaischen Charakteren beilegen, dass jedes Sittengemälde
einheitlich und gleichzeitig sein muss, und dass die archäologische
Literatur eine verkehrte Gattung ist« (E. L. III. S. 47). Das Bild
der Vergangenheit muss man bei den Schriftstellern der Vergangen-
heit suchen ; der erdichtete Roman muss den authentischen Memoiren
Platz machen; die historische Literatur muss sich in Kritik und
Geschichte verwandeln.
Im Allgemeinen hat Taine alle Forderungen, die er an den
Historiker stellt, bei der Kritik Michelets zusammengefasst. »Die
Geschichte ist eine Kunst, aber sie ist auch eine Wissenschaft; sie
verlangt von dem Schriftsteller die Eingebung, aber sie verlangt von
ihm auch die Ueberlegung. Hat sie als Mitarbeiterin die schöpfe-
rische Phantasie, so hat sie als Werkzeug die bedächtige Kritik und
die umsichtige Verallgemeinerung. Seine Bilder sollen ebenso
lebendig sein, wie die der Poesie, aber sein Stil soll ebenso genau,
seine Eintheilung ebenso deutlich, seine Gesetze ebenso bewiesen,
seine Folgerung ebenso zwingend sein wie die der Naturgeschichte«
(Ess. S. 56).
II.
In der modernen Auffassung ist alle Geschichte Gesellschafts-
geschichte; der ganze Umkreis der Mitglieder einer Volksgemein-
schaft gehört dazu. Der frühere Geschichtsbegriff betraf nur einen
Ausschnitt aus der Gemeinschaft und nicht einmal einen repräsen-
tativen. Der Einzelne ist mit seinem Leben in die Geschichte hinein-
gebettet; jede Individualgeschichte ruht auf einem sociologischen
Fundament. Der Einzelne ist als Object der Gescliichte an die
Socialgeschichte gebunden. Neuere Historiker lehnen das Individuum
wohl nicht unbedingt ab, aber sie weisen es aus dem Bereich der
wissenschaftlichen Geschichte hinaus. Die Geschichte ist nach ihrer
Meinung nicht dazu da, die Eäthsel des Individuums zu lösen.
Die Geschichte hat es aber mit einem andern Begriff des Indi-
viduums zu thun als die Philosophie ; für die letztere ist es eine Ab-
straction. Das historische Individuum hat aber sehr wohl concreten