Page 706 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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      qualitäten  erfassen.  Mit dem Rest  gibt  sie  sich  nicht weiter ab.
      Den überlässt sie den Psychologen und Psychiatern.
          In Taine's Werken nun sind alle Bausteine zu einer Typenlehre
      gegeben.  Bei  seiner systematischen Auffassung der Geschichte  ließ
      er dem Individuum    fast keinen Raum.   Natürlich widerstrebte  es
      dem Geschichtstheoretiker, individuelle Verdienste anzuerkennen, eine
      Leistung  auf  persönliche  Fähigkeiten  zurückzuführen.  Aber  sein
      eigentliches Können gipfelte durchaus nicht in seiner mechanischen
      Methode;  er sah  die Dinge vielmehr mit synthetischen Augen.  Mit
      einer außerordentlichen Kraft der historischen Einfühlung und In-
      tuition vermochte  sich Taine in die Seele der Geschichte zu ver-
      setzen, mit gleicher Liebe umfasste er die großen Bewegungen des
      Völkergeschehens,  wie  die  innersten Wandlungen im Herzen    der
      hervorragenden historischen Typen.  Als »Repräsentanten einer Art«
      traten die Individuen in alle seine culturgeschichtlichen Darstellungen
      mit ein.  Er verkörperte  sich  die Zeitalter  in einer repräsentativen
      Persönlichkeit, in einem Typus.  Auf diese Verkörperung wandte er
      die Farbenpracht   eines  Romanschriftstellers.  Das war  in  seinen
      politischen Darstellungen nicht weniger der Fall,  als  in seinen  lite-
      rarischen und kunstgeschichtlichen.  Die Porträts,  die  er von den
      Jakobinern und von Napoleon gegeben hat, sind ganz nach     dieser
      Methode entworfen;  sie strotzen von Lebensfülle und geben zugleich
      in jedem einzelnen Zuge die historische Structur kund. Der Forscher,
      der zuerst das Gesetz der Relationen aufgestellt hatte, konnte auch
      an dem Verhältniss der leitenden Menschen zu der allgemeinen ge-
      schichtlichen Entwicklung nicht vorübergehen.
         In jener Vorrede zu den Essays hat Taine keineswegs die Ein-
      wände übersehen,   die vom Gegner erhoben werden konnten:     »Er
      wirft ihnen vor,  dass  sie  die  nationalen Charaktere und  die allge-
      meinen Verhältnisse als die einzigen großen Kräfte in der Geschichte
      betrachten, und von dieser Behauptung ausgehend behauptet er, dass
      sie das Individuum unterdrücken.   Er vergisst,  dass  diese großen
      Kräfte nur   die Summe   sind von den Neigungen und Gaben der
      Individuen, dass unsere allgemeinen Beziehungen Sammelbegriffe sind
      und  dass  die Individuen in einem Volke, einem Jahrhundert oder
      einer Rasse ebenso vorhanden sind und wirken, wie die Summanden
      in einer Addition«  (Ess. S. 23).  Wer dem Historiker vorwirft, dass
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