Page 709 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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        selbst empfindet, erhalten nach und nach Leben nnd Gestalt;
                                                                     sein
        eigenes Wesen und die gesammelte Erfahrung
                                                     ist  die Basis  seines
        Schaffens, und  seine Charaktere  stellen nur  dar, was er selbst ist,
        fassen nur zusammen, was er gesehen und erlebt hat. «
                                                          (E. L. 11. S. 89.)
        »Das ideale Vorbild drückt immer die wirkliche Lage aus, und die
        Phantasiegebilde thun, gleich den Geistesbegriffen, nur den Zustand
        der  Gesellschaft und den Grad der Wohlfahrt kund.    Es besteht
        eine bestimmte Verbindung zwischen dem, was der Mensch   ist und
        dem, was er bewundert.«  (E. L.  I.  S. 230.)  Das ist sehr begründet,
        denn >wenn ein Schriftsteller die EigenthümHchkeit seines Jahrhun-
        derts vollkommen auszudrücken vermag, so kommt es daher, dass er
        sie selbst hat.  Es besteht eine genaue Wechselbeziehung zwischen
        dem  allgemeinen Empfinden und    seinem  persönlichen Empfinden.
        Sein Geist  ist gleichsam der verkürzte Geist des andern, und man
       findet  bei ihm in noch stärkerem Maße   als  bei den anderen die
       Grundzüge und die Umstände, die den Geschmack seiner Zeitgenossen
       gebildet haben.*  (Ess. S. 379.)
           Nicht anders, wie der dichterische Typus  einer Zeit bildet sich
       auch der wirkliche, derjenige, der später sein Wesen in der Geschichte
       abgedrückt haben wird,   die reale historische Persönlichkeit.  Jede
       Kulturepoche  ist durch einen Reichthum an psychologischen Ver-
       fassungen ausgezeichnet.  Diese Vielfältigkeit von Seelen hat bei aller
       Disgregation gewisse gemeinsame Tendenzen.  Das Princip der natür-
       lichen Auslese hat nach Taine auch in der Geschichte seine Ana-
       logie.  »Die Historiker können nachweisen,  dass  in einer Gruppe
       von Menschen die Individuen, welche das höchste Ansehen und   die
       höchste Entwickelung erreichen, diejenigen  sind, deren Fähigkeiten
       und Neigungen am besten denen der Gruppe entsprechen, dass    die
       moralische wie die physische Umgebung auf jedes Lidividuum durch
       beständige Anregungen und Hemmungen einwirkt, dass sie die einen
       unterdrückt und die anderen wachsen   lässt, im Verhältniss zu der
       Uebereinstimmung und der Verschiedenheit, die sich zwischen ihnen
       und ihr selbst finden, dass diese unbewusste Ai'beit ebenso eine Aus-

       lese  ist und dass auch  eine Reihe von unmerklichen Gestaltungen
       und Missbildungen die Entwickelung der Umgebung auf    die Bühne
       der Geschichte, die Künstler, die Philosophen, die rehgiösen Refor-
       matoren und die Politiker führt, die fähig sind, den Gedanken ihres
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