Page 707 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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      er die unabhängige und freie Persönlichkeit leugne, der »vergisst, was
     eine individuelle Seele  ist, wie er kürzhch vergaß, was eine historische
     Macht ist; er trennt das Wort von der Sache; er nimmt ihm seinen
     Inhalt und stellt es beiseite, wie ein selbstschaffendes und besonderes
      AVesen.  Er hört auf,  in der individuellen Seele, wie vorhin  in der
     historischen Macht, die Elemente zu sehen, die jenen bilden, vorhin
      die Individuen, von denen die geschichthche Macht nur die Summe
     ist, jetzt die Fähigkeiten und Neigungen, von denen die individuelle
     Seele nur die Gesammtheit ist. Er sieht nicht, dass die grundlegenden
     Fähigkeiten und Neigungen einer Seele ihr gehören, dass diejenigen,
     die  sie in der allgemeinen Lage oder durch den Charakter  erhält,
     ihr vor allem persönHch angehören und angehören werden, dass, wenn
     sie durch diese wirkt,  sie es von selber thut, durch eigne Kraft,  frei-
     wilhg,  mit  vollster  Initiative,  unter  voller VerantwortHchkeit und
     durch die Analyse , durch welche man ihre Haupttriebe, üir allmäh-
     liches Eingreifen und die Verbreitung ihrer ersten Bewegung, das
     Ganze, das sie selbst ist, nicht hindert, aus sich selbst seinen Schwung
     und seine Richtung zu nehmen, d. h. seine Kraft und seine Wirkung«.
         Es lag also gar nicht in Taine 's Absicht, der Individuahtät ihre
     Rechte vorzuenthalten.  In  seiner Praxis  trug  er den  personalen
     Tendenzen   reichlich Rechnung,  uneingestanden  liebte  er  die  be-
     deutenden Menschen, denen er vom Standpunkt seiner Geschichts-
     theorie aus keinen Vorzug einräumen   durfte.  Jedenfalls ging sein
     Streben  stets nach der Erfassung der typischen Züge, wie er denn
     auch der Ansicht war, dass >sich jeder Mensch in den Augen eines
     Menschenkenners auf   drei oder vier Hauptzüge reducire,  die durch
     fünf oder sechs bezeichnende Handlungen vollständig zum Ausdi-uck
     kommen«.    In seinem Drang nach Vereinfachung glaubte er auch,
     die seelischen und die  gesellschaftlichen Bewegungen einer großen
      Gesammtheit auf eine centrale Ki-aft zui-ückführen zu können.
         Wie stark Taine schon auf eine Typenlehre hinzielte, zeigt, dass
     er in  seiner Methode von den Charakteren,   die  kleinere Gruppen
     bestimmen,  zu denen   aufsteigt,  die  größere Gruppen  bestimmen.
     Bei der Verallgemeinerung von Einzelfällen gebraucht er die größte
                Das Verfahren Michel et 's bedenkt er mit einer herben
      Vorsicht.
      Rüge: »Das Misstrauen macht sich geltend, wenn man eine kleine
     Handlung   als Symbol  einer Civihsation  aufgestellt, ein Individuum
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