Page 710 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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698                 -      Julius Zeitler.

    Zeitalters oder ihrer Rasse zu verdolmetschen oder  zu vollenden.«
    (Ess. Yorr. S. 26.)
       Der Mensch braucht bloß die Entwickelung seiner Gesellschaft,
    seiner Stadt, seines Volkes hingebungsvoll mitzuleben,  so verkörpert
    er auch eine bestimmte Typik der Ereignisse;  die Zustände graben
    ihre Spuren in ihn ein.  Die historischen Untersuchungen beginnen
    nicht einseitig mit Betrachtungen darüber, wie  sich aus den allge-
    meinen geistigen Tendenzen der Charakter   eines  Zeitalters erhebt,
    sondern damit, dass sie darnach fragen, in welcher Weise  sich jene
    geistigen Tendenzen  in  einzelnen Individuen verkörpert haben und
    durch sie wieder auf die Gesammtentwicklung zurückwirken.  »Auch
    die leitenden Persönlichkeiten einer gegebenen Zeit haben wegen der
    Bedeutung, die sie für diese Zeit besitzen, ihren eigenen unvergleich-
    lichen Werth, der uns durch irgendeine einer   anderen Zeit ange-
    hörende Persönlichkeit  ebensowenig  ersetzt werden kann,  wie  die
    Zeiten selber einander ersetzen können,  «i)
       Das wissenschaftliche Verfahren, das  der Historiker anwenden
    muß, um aus den realen Persönlichkeiten typische Eigenschaften zu
    gewinnen, besteht in der Hervorhebung und Vereinigung der gemein-
    samen Züge.   Die Typik entspringt aus der Vereinigung gleichartiger
    Thatsachen,  die einem ganzen Zusammenhang entnommen sind. Das
    ist bei dem seelischen Thatsachencomplex einer Individualität nicht
    anders der Fall,  als  bei dem einer Gruppe,  eines  Staates,  einer
    Epoche.  Das Typische wird mittels des vergleichenden Urtheils fest--
    gestellt; finden sich an einer Anzahl von Objecten Gleichartigkeiten,
    so werden  diese unter  einen  Begriff  subsumirt;  diese  Gleichartig-
    keiten bestimmen den Typus, der Begriff bezeichnet ihn.  Der Typus
    entsteht  also durch Bationalisirung  des  Objectes; was  sich  dieser
    entzieht,  fällt auch außerhalb des Bereiches der Geschichte.  Die
    unterscheidenden Züge können charakteristische sein  ; aber diese ge-
    ringen Differenzen interessiren die Geschichte nicht.  Durch constant
    angewandte Abgrenzung des Bereichs des Typischen von dem des
    Singulären wird das Irrationale im Individuum immer mehr eingeengt,
    freilich nie aufgelöst. Das Typische ist coUectiv ; der Rest ist singulär
    und geht die Geschichte nichts an.


        1) Wundt, Logik,  n.  2. S. 432.
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