Page 715 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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       der Geschichte auf Typen reducirt, dann hat man zugleich die Epochen.
       In der Typenentwickiung
                                 hegt keine geringere Gresetzmäßigkeit als
       in der Stufenfolge.  Der Begriff des Typus  reiht  sich damit den
       übrigen geschichtswissenschafthchen Begriffen an, die das Gerüst für
       den Aufbau der Geschichte bilden.      Es braucht kaum bemerkt
       zu werden, dass er sich durchaus nicht mit dem Begriff der Stände
       und Classen, wie es im gewöhnhchen Sprachgebrauch geschieht, deckt.
       Mönch, Bitter und Spielmann sind wohl Typen des Mittelalters,
       sagen aber in ihrer Vereinzelung noch nichts über den Gesammttypus
       aus.  Der Handwerker ist kein allgemeiner Typus des 15., der Welt-
       mann,   der Gelehi-te, keiner des  18. Jahrhunderts.  Gewiss sind in

       diesen Standeszusammenfassungen Annäherungen an den psycholo-
       gischen Typus gegeben, aber kein einzelner Stand schon ist typisch
       für die ganze Gesellschaft.
           Jeder Historiker  ist  typenbildend.  Es wird von  seiner Ver-
       anlagung abhängen,   ob  seine Typen  eine mehr künstlerische oder
       mehr pohtische Färbung tragen.  Die Individuahtäten sind geschicht-
       lich nur in ihren tjrpischen Eigenschaften heranzuziehen.  Keine Per-
       sönHchkeit kann  in ihrem Rohzustand als Typus verwendet werden.
       Wem es beifiele, die Individuahtäten mit den Typen zu verwechseln,
       der würde  heroistische  Geschichte  treiben und dem Heldencultus
       fröhnen, anstatt der Wissenschaft zu dienen.  Die meisten Menschen,
       die man   die großen nennt,  können  in den Rahmen der für eine
       Cultui' typischen Persönhchkeit gefasst werden.  Sie können sogar
       zusammenfallen.  Das wird nicht häufig vorkommen.  Darüber hinaus
       kann eine historische Persönhchkeit den Typus wohl auch sprengen.
       Älit diesem Jenseits ist sie aber geschichtswissenschafthch nicht fass-
       bar, sondern psychologisch.
           In der Geschichte der englischen Literatur finden sich zahlreiche
       Beispiele, -«de Taine einen Culturumschwung beschrieb.  Alle Details
       zur Kennzeichnung   der Wandlung entnimmt    er den herrschenden
       Persönhchkeiten, er greift die Züge heraus,  die ihm für ihre ganze
       Epoche Geltung zu haben scheinen ; dann ist nicht mehr von Persön-
       lichkeiten die Rede, sondem von seehschen Zuständen, Verfassungen,
       Vorgängen,  die insgesammt dem Typus des Cultui'zeitalters vindicirt
       werden können.   Es handle sich um den Uebergang von der eng-
       hschen  Renaissance zum   classischen  Zeitalter.  Taine  beschreibt
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