Page 705 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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     lichkeit zu einem guten Theile widerlegt.  Gewisse Individualitäten
     müssen immer als Repräsentanten, als Träger der Epoche, eingeführt
     werden, denn die PersönHchkeiten sind es eben, an denen und mittels
     deren sich der Geschichtswandel am deutlichsten documentirt.  Aus
     der Darstellung, auch des extremsten Sociologen, heben sich die In-
     dividualitäten wie Bergesgipfel empor.  FreiHch nicht unverkümmert,
     denn ein überhistorisches, nämhch psychologisches Abwägen und der-
     gleichen kennt er nicht;  er klemmt alles in das Prokrustesbett des
     geschichtlichen Verlaufs, wie  er ihn  sich  vorstellt.  Allerdings:  er
     reiht die bedeutenden Individuen in seine Darstellung mit ein, aber
     er kappt sie,  er bearbeitet sie mit der historischen Scheere, um sie
     für seinen Gebrauch,  d. h. für seine Darstellung von der Epoche zu-
     rechtzuschneiden.  Die Ueberragenden gehen   unter seinen Händen
     nicht mit  ihrer Individualität  in den Process  der Geschichte  ein,
     sondern verstümmelt.  Immerhin:  die Geschichte kommt also über-
     haupt nicht ohne Persönlichkeiten aus.  Und sie muss jedes Mal dann
     eine Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellen, wenn sie repräsentativ
     ist für ihre Epoche.  Der ganze Strom der Geschichte geht durch
     sie hindurch;  in  ihr,  als dem bevorzugten Träger des Geschehens,
     sind  die Zustände und Ereignisse gleichsam  krystallisirt.  Es  gibt
     Individuen,  die ganz  restlos  ihre  zeitgenössische  Geschichte um-
     schreiben;  typische Persönlichkeiten,  auf  deren  zwei Augen ganz
     allein  eine  historische Strömung beruht.  Das sind die Leute,  die
     am Webstuhl    der  Geschichte  sitzen;  Geschichte  wird überhaupt
     immer noch gemacht, nicht mehr von Königen, wie     es überhaupt
     selten geschehen, sondern von den Culturträgem.
        Die typischen Erscheinungen in den historischen Persönhchkeiten
     sind die für die Geschichte allein bedeutsamen, ganz abgesehen davon,
     ob  sie gegenüber den singulären größere oder geringere Macht be-
     sitzen.  Die Typik  eines Individuums  zeigt den Grad an,  in dem
     social-psychische Kräfte in ihm wirksam sind ; alle personalen Tendenzen
     und Richtlinien führen ja irgendwie  in den allgemeinen Gang der
     Zeit hinein.  Nur die Typik bringt Ordnung in  die reiche Mannig-
     faltigkeit des  individualgeschichtlichen Lebens.  Geschichtlich kann
     der Einzelne garnicht anders gefasst werden,  als mit dem Netz des
     Typus.  Die Geschichte kann jene Theilgebiete,  die  nicht  in den
     Typus  fallen,  entweder  als Rückständigkeiten  oder  als Voriäufer-
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