Page 704 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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692             .          Julius Zeitler.
      und herauslösen und hat das in der Praxis bisher auch durchweg
      gethan.  Es scheint, der Kampf zwischen massenpsychologischer und
      individualpsychologischer Auffassung  der Greschichte,  zwischen  der
      unbekannten Menge und    den Helden   als Trägern des Geschehens
      kann nur durch eine historische Typenlehre gelöst werden.  Gerade
      nach den "Wandlungen der Methode hat die Geschichte die Aufgabe,
      das Individuum irgendwie zu fassen;  es lässt sich aber geschichtlich
      nicht  anders  fassen  als  durch  seine typischen Eigenschaften,  die
      singulären entschlüpfen der ordnenden Hand des Historikers immer
      wieder.  Es  ist  eine  seiner Aufgaben,  das Individuum auf Typen
      zu bringen, da er es psychologisch nicht erschöpfen kann.
         In der Geschichte handelt es sich also sowohl um Massenbewegungen,
      als Typenentwicklungen.  Der Begriff der Typen umschließt die In-
      dividualitäten und  Persönlichkeiten,  soweit  sie am  geschichtlichen
      Process theilhaben.  Dieser Antheil entzieht sich keineswegs der Be-
      stimmung.   Das  geschichtliche Gedächtniss  halt an sich nur jene
      Züge der Persönlichkeiten fest, die für den allgemeinen Verlauf der
      Dinge von   unwiderleglicher Bedeutung  sind.  Der   geschichtliche
      Beitrag jedes Individuums  ist wohl gebucht; mag er auch in einer
      schwankenden Weise    von den  Historikern  geschätzt  werden.  In
      großen Umrissen steht er  fest.  Man  ist sich also darüber klar, in
      welchem Maße die historischen Individuen zum Strom der Geschichte
      beigetragen haben.  Dieses Material bietet die Mittel an die Hand,
      die Beiträge der Einzelnen zu vergleichen, auf ihre Wesenszüge zu
      untersuchen und für jedes Zeitalter unter einen Generalnenner zu
      bringen.  Der »Standpunkt«,  der  die Historiker die geschichthchen
      Strömungen übersehen lässt, muss freilich hoch genug sein, dass auch
      größere Persönlichkeiten mit ihm erfasst werden können. Wenn der
      Standpunkt zu niedrig  ist, als dass er die bedeutenderen Individuali-
      täten mit umschlösse, so fällt auch die von ihm aus construirte histo-
      rische Strömung dahin.
         Der sociologischen Geschichte kommt   es scheinbar nur auf die
      großen Culturströmungen an, und jeder Blick darauf lehrt, dass in
      ihr doch  die Persönlichkeiten nicht entbehrt werden können.  Die
      Schilderung  der Zustände  ist ohne  individuelle Details gar  nicht
      möglich.  Individualitäten müssen auf jeder Seite die Culturgeschichte
      illustriren.  Dadurch wird die theoretische Missachtung der Person-
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