Page 697 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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.  Taine und die Culturgeschichte.
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       Rasse.   Greschichtlich  ist  dieser  französische Typus  besonders im
       monarchischen und   classischen Frankreich  herausgetreten.  Dieser
       »classische  Geist«,  eine  »historische  Kraft  ersten Ranges«  (Ori-
       gines  I,  S. 232),  verdient  einen Augenbhck  näher  betrachtet zu
       werden.
           »Durch seine natürliche Beanlagung und seine Constitution erweist
       sich  das  classische Frankreich vor allen Nationen am meisten ge-
       eignet für die Sitten des Weltlebens und die Werke des oratorischen
       Geistes«  (E. L. 11. S. 77).  Gleichzeitig mit der Monarchie und der
       feinen Conversation kommt der classische Geist in die Höhe.  Das
       ganze Leben bekam     sogleich einen rednerischen und  literarischen
       Anstrich.  »Der classische Geist verdankt seine Entstehung der Ge-
       wohnheit, vor einem Salonpublikmn zu sprechen und für ein solches
       zu denken und zu schreiben«.  (Origines I. S. 234).  »Die königHche
       Suprematie schafft einen Hof, den Mittelpunkt der Gesellschaft, die
       Quelle aller Huld, den Schauplatz des Glanzes und Genusses. Am

       Throne werden die vornehmen Herren sofort feine Cavahere und Höf-
       linge«  (E. L. n. S. 51).  »Was dem Höfling am meisten fehlt, ist die
       wahre Empfindung eiuer erfundenen persönlichen Idee. Was ihn am
       meisten  interessirt,  ist die Correctheit des äußeren Schmuckes, die
       Vollendung des äußern Scheius« (E. L. U. S. 71).  »In den Hofsitten
       ersetzt das Wori  die That  .  .  . Die Kunst, zu plaudeni, wird die
       erste von allen  .  .  . Die Conversation soll nicht einer Arbeit, sondern
       einem Spaziergang  gleichen.  Die neue  Literatur wird das Werk
       und das Bild der Gesellschaft, die zugleich ihr Publicum und ihr
       Modell war,  die aus ihr hervorging und mit ihr endete«  (E. L. U.
       S. 53).  Die Classiker begreifen den Geist nur m seinem cultivirten
       Zustande,  sie haben  ihr poetisches Handbuch mit den gestatteten
       Mustern  stets bei sich;  »alle Persönlichkeiten,  die das MenschHche
       überragen, entgehen ümen«.  In dieser Epoche sind alle Schriftsteller
       Weltmänner, stolz auf ihre feinen Manieren, auf ihr Leben am Hofe
       und  in vornehmer Gesellschaft,  stolz auf ihr chevalereskes Wesen
       und ihren guten Geschmack.     »Ich  bin  kein  Schriftsteller«, sagte
       Congreve zu Voltaire,     »ich bin ein Gentleman«.  In der That,
       wie Pope sagte: »er lebte mehr als ein Mann von Stande, denn als
       ein Mann der schönen Wissenschaft«.    In dieser Weise  entfaltete
       der classische Geist seine Macht in Frankreich; er war das Modell,
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