Page 691 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.
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      durch irgend einen auf die Rasse bezughabenden Umstand ei-worben
      oder hervorgebracht« .... wir dürfen
                                            >die Gesammtbewegung einer
      bestimmten Kultur als Resultat einer permanenten Kraft betrachten,
      die ihre Wirksamkeit jeden Augenblick ändert, indem   sie die Um-
      stände ändert, unter denen sie wirksam ist«
                                                 (E. L. Vorr. St 29).
         In der Vorrede zu den Essays,   die Taine 1866 schri^    setzte
      er seine Methode, seine >Art, zu ai'beiten«, gi'undlegend auseinander *). c
      Um den psychischen Zustand, der eine gegebene Literatur, Philo-
      sophie, Kunst oder  Gesellschaft  hervorbringt, zu erklären, forscht
      Taine nach den    seelischen Kräften,  die  ihn  erzeugen.  Um das
      Abstractionsverfahi-en, aus dem  letztere gewonnen werden, handelt
      es sich.
         Zuerst beschi-eibt Taine,  Nvie ii-gend eine historische Persönlich-
      keit, ein Gelehi'ter oder ein Staatsmann auf psychologische Begriffe
      gebracht werden kann, indem er seine charakteristischen Züge  auf-
      stellt und ihn endüch  auf  einen bestimmten  Seelenzustand  fixirt.
      Von einer genauen psychologischen Tenninologie ist dabei keine Rede,
      Taine war der Meinung, vde alle Historiker bis  in  die Gegenwart
      herein, dass selbstgemachte Begriffe das Beste wären und dass man
      die exacte Psychologie dazu nicht benöthige.  Durch Weiterführung
      der Analyse kommt nun Taine zu einer ganzen Anzahl von Zügen,
      die sämmtlich in einer gewissen Verknüpfung stehen.  Zuletzt genießt
      er >das Schauspiel der wunderbaren Nothwendigkeiten,  die  die un-
      zähhgen, verschiedenartigen wirren Fäden jedes menschHchen Wesens
      miteinander verbinden«  (S. X'VlLL).  Von hier schreitet  er  fort zui-
      Untersuchimg gi-ößerer Körper, wie etwa einer ganzen Künstlerschule,
      einer Cultiu-, einer Rasse, einer Epoche.  Er fordert dazu  auf,  die
      Thatsachen zu gruppii'en und aus jeder Thatsachengruppe mittels der
      psychologischen Analyse die bedeutsamsten Elemente herauszuziehen
      (S. XIX).  Taine nennt hier dasselbe seine übergeordnete Thatsache,
      was Hegel die Idee einer Gruppe nennt.   Hier begegnet man auch
      sogleich dem Gesetz der historischen Relationen.  >In einer Gesammt-
      cultur  steht  alles Einzelne  in  einer  gegenseitigen  Abhängigkeit.«
      >Zwischen einem Buchengang von Versailles, einer philosophischen
      und theologischen Erörtemng von Malebranche,     einer Vorsclirift


         1) Taine, Essays.  Deutsch von P. Kühn u. A. Aal. 1898. (Ess.)
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