Page 686 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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674                        Julius Zeitler.
       war ihm der Zeitpunkt, dessen Verschiedenheit ihm genügend galt
       zur Herbeiführung einer Verschiedenheit der Gesammtwirkung.    Er
       bedeutet  die  zeitliche Fixirung  der  zusammentreffenden  geistigen
       Größen.   Mit qualite maitresse bezeichnet Taine      endlich den
       persönlichen und  inneren Factor, wohingegen Rasse,   Milieu und
       Moment collective Factoren sind, an deren Constituirung die Außen-
       welt in höherem Maße betheiligt ist, als die Innenwelt.
          In der Milieutheorie glaubte Taine das Werkzeug zur Zurück-
       führung aller geschichtlichen Vorgänge auf die Einflüsse der geistigen
       Umgebung in der Hand zu haben.     In diese geistigen Factoren sind
       auch die Naturbedingungen mit eingeschlossen und in den ihnen ge-
       bührenden Zusammenhang gebracht.      In der Aufeinanderfolge der
       Factoren ist zugleich das Verhältniss angegeben, in dem sie zu ein-
       ander stehen.  Jede folgende Stufe  ist allgemeiner  als  die voran-
       gehende und umfasst daher    die Bedingungen  zu  ihrer Erklärung.
       Die geistigen Mächte, die eine Zeit beherrschen, umschließen auch
       die  gesellschaftlichen Bedingungen, von diesen wiederum wird der
       specielle sociale Kreis umfasst.  Uebrigens herrscht über die Begriffe
       der Milieutheorie keineswegs allgemeine Klarheit; keine ihrer heutigen
       Anwendungen lässt auf eine exacte Definition schließen,  die ihnen
       zu Grunde läge.  Das ist aber vielleicht die Schuld Taines.
          Die Milieutheorie  ist durchaus  geschichtsphilosophischer Natur;
       Taine betrachtete sie als das allgemeine Princip, dem das gesammte
       historische Geschehen unterworfen wäre; soweit er es anwandte, trägt
       seine ganze Forschung einen deductiven Charakter.  Dass  ein herr-
       schendes Princip die Gedanken eines ganzen Zeitalters regle,  ist eine
       sehr wahrscheinliche Hypothese, ebenso wie Jedermann geschichts-
       psychische Gesetzmäßigkeiten anerkennen wird, aber es ist nur unter
       äußerster Vorsicht gerathen, mit Deductionen, die sich darauf stützen,
       in der Geschichtswissenschaft zu operiren.
          Taine ließ theoretisch keine Durchbrechung oder auch nur Ein-
       schränkung  des Princips  gelten.  »Große,  wirksame,  weittragende
       Ideen entstehen weder durch Zufall,   noch durch Willkür,   weder
       durch die Anstrengungen eines Individuums, noch durch ungefähres
       Zusammentreffen.  Nicht nur die Literaturen und Religionen, sondern
       auch  die  philosophischen Systeme und Methoden verdanken    ihren
       Ursprung dem jeweiligen Zeitgeist, und nach diesem richtet sich ihre
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