Page 683 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.           671

         Zum eigentliclien Durchbruch aber kommen die Gedanken Taine 's
     über die historische Methode erst in seiner > Geschichte der englischen
     Literatur«!),  die 1863 erschien und deren Vorrede für das Problem
      der Culturgeschichte von größter Bedeutung  ist.  Seine Absicht, eine
      Art Naturgeschichte der Literaturgeschichte zu geben, erreichte er
      vollkommen,  noch  jetzt  ist  sie  das  glänzendste Uterar -historische
      Werk der Franzosen.   Taine bewies darin eine bis dahin unerhörte
      Auffassung der Literaturgeschichte.  Er legte das Hauptgewicht auf
      die Behandlung der Psychologie Englands.  Das Werk ist eine cultur-
      psychologische  Darstellung  unter Zugrundlegung  der  literarischen
      Verhältnisse ; mehr eine Darlegung der hterarischen Cultur Englands,
      als seiner Literaturgeschichte 2).
         üeberhaupt hat Taine den Werth, den Literaturwerke für die
      Culturgeschichte einer Zeit haben können, erst erschlossen; er nahm
      ihn zuerst in Anbau.   Taine sah in den Literaturdenkmälern vor
      allem die kostbarsten culturhistorischen Documente, die bezeichnend-
      sten, die der Geschichte zur Verfügung stehen; sie waren ihm »Spiegel-
      bilder der zeitgenössischen Sitten«, und zugleich rühmte er sie als die
      schönsten Früchte  ihrer Epoche.  »Ein  Schriftwerk  ist  nicht  das
      einfache Spiel  einer  Einbildungskraft,  die vereinzelte Laune  eines
      heißen Kopfes, sondern ein Abbild der umgebenden Sitten und das
      Merkmal eines geistigen Zustands«  (E. L. Vorr.).

         Li der culturpsychologischen Auffassung  der  literarischen Pro-
      ducte begegnete sich Taine mit Schlosser, der gesagt hatte, dass
      man aus den Romanen     die Culturgeschichte  eines Volkes schreiben
      könne.   Von  dieser neuen Schätzung nahm   eine  sehr bedeutsame
      Aenderung der Geschichtschreibung ihren Ausgang.     In der That
      zog Taine literarische Belege in einem vorher nicht gekannten Sinne
      für die Psychologie der Geschichtschreibung heran.  Ein Schriftsteller
      repräsentirte ihm  die Zeit in einem weit tieferen Sinne,  als irgend


          1) H. Taine,  Geschichte der  englischen Literatur, 3 Bde.,  übersetzt von
      L. Katscher (E. L.).
          2) Die Beziehungen zwischen der Literatur, den gesellschaftlichen Sitten und
      den staatlichen Einrichtungen im Sinne der Geschichtsphilosophie Montesquieu's
      wurden von Madame de Stael untersucht in ihrem Werk: De  la litterature
      consideree dans ses rapports avec les institutions sociales 1800.
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