Page 685 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 685
Taine und die Chüturgeschichte, 673
»sichtlich unter dem vorwaltenden Einflüsse hterarhistorischer Unter-
suchungen entstanden«!). Diese Literarstudien , denen sich später
kunstgeschichtliche anschlössen, stellten Taine auf eine 'Höhe des
historischen BHckes, auf der er jedem historischen Werk seiner Zeit
weit überlegen war, er war dadurch im stände, RichtUnien und Ab-
wicklungen der Geschichte zu erkennen, die dem Verfasser selbst,
der an dem chronologischen Faden der Begebenheiten entlang kletterte,
verborgen geblieben waren; den literarhistorischen Verlauf projicirte
er auf den historischen; so unterschied er sofort die Strecken der
rascheren oder der langsameren Entwicklung und spannte eine ganz
andre Periodisirung über das Gebiet, als sie aus dem politischen
Geschehen allein, aus der Dauer einer Regierung oder eines Krieges,
gewonnen worden war. Kein Wunder, dass Taine so von Anbe-
ginn an ein Meister der historischen Composition war: die Geschichte
der englischen Literatur ist auch ein glänzend componirtes, be-
deutendes Kunstwerk.
In der Milieutheorie fühi-te Taine ein sehi* fruchtbares Princip
in die Geschichtswissenschaft ein. Herder und Hegel hatten in
gleicher Weise an den Ursprüngen desselben Antheil. Uebrigens
können schon seit Bodinus und Montesquieu die »umgebenden
Umstände« für die Beui'theilung von Menschen und Völkern nicht
mehi' entbehrt werden. Und bei der Schilderung der florentinischen
Zustände in seiner Biographie Cellini's sagte Goethe: »Denn indem
man einen Menschen als emen Theil eines Ganzen seiner Zeit oder
seines Geburts- und Wohnortes betrachtet, so lassen sich gar manche
Sonderbarkeiten entziffem, die sonst ewig em Räthsel bleiben würden«.
In der Rasse sah Taine die reichste der Hauptkräfte, von
denen sich die geschichtUchen Ereignisse ableiten lassen; er definirte
sie als »jene angeborenen und erbhchen Anlagen, die der Mensch in
sich trägt und die gewöhnlich mit scharfen Unterschieden im Tem-
perament und im Körperbau zusammenhängen«. Als zweite Haupt-
die Sphäre, die Umwelt, das geographische Müieu
kraft stellte er
auf; in den * umgebenden Verhältnissen« fasste er alle äußeren
Mächte zusammen, die den menschhchen Stoff gestalten. Der Begriff
Umwelt ist im Wesentlichen geistig zu verstehen. Dritte Hauptkraft
1) Wundt, Logik H. 2. 328.
Wnndt, Philos. Stadien. XX. 43