Page 688 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       Theorie ein einseitiges und unvollständiges Schema, sein Werk selbst
       sprüht vollstes Leben, es ist das vielfältige Gewebe  eines unendlich
       verzweigten Gedankenreichthums,
          Auf der Grundlage der Milieutheorie erwuchs die neue Auffassung
       der Geschichte,  die Taine  in  die Welt brachte, und mit  der  er
       schließlich den wissenschaftlichen Realismus in Frankreich zur Herr-
       schaft führte.  Schon in der Vorrede zur Geschichte der englischen
       Literatur  stellte  er  Stufen  der  geschichtswissenschaftlichen For-
       schungsweise auf und verbreitete sich über die niedere, wie über die
       höhere Methode. Dem Ansammeln und der Kritik von Thatsachen
       und Ereignissen stellte er die Zusammenfassung der typischen Reihen
       in höhere Zusammenhänge gegenüber.     Taine achtete bloße  Stoff-
       compilationen wenig;  sie bedeuteten für ihn reine Vorarbeit gegen-
       über  der Hauptsache,  der Erforschung   der Ursachen.   Die Ge-
       schichte war für Taine ein psychologisches Problem: >Die Regeln
       der menschlichen Vegetation zu   suchen,  die  specielle Psychologie
       jedes speciellen Gebildes zu entdecken,  ist die Geschichtschreibung
       jetzt berufen«  (E. L. I. S. 30).
          Mit  mächtiger  Geberde   wies Taine   auf  die  ursprünglichen
       Quellen zurück, auf die alten authentischen Belege.  Dennoch Heß
       er seiner ganzen Geistesanlage nach den objectiven Quellen gegen-
       über den   subjectiven  keine  einseitige Ueberschätzung  angedeihen.
       Ihm  lag  vor Allem an   der »psychologischen« Analyse  der Texte.
       Das   eigentliche  Arbeitsgebiet  des  Historikers  sind nach ihm  die
       Rückschlüsse von den Handlungen, Thaten und      Schriften auf die
       Seele.  Die Quellen sind keine unmittelbaren Zeugnisse über den
       psychischen Zustand, der einer That vorhergeht; aus der Quelle muss
       vielmehr  erst der Thatbestand herausgeschält werden,  aus diesem
       erst können die psychologischen Rückschlüsse auf die Motive gemacht
       werden.
           So  viel Werth Taine auf   die Documente legte,  er war doch
       weit entfernt, ihnen eine absolute Bedeutung beizumessen ; man müsse
       vielmehr die Menschen erkennen, die  sie gemacht haben.   »Sowohl
       Muscheln als Documente sind leblose Ueberbleibsel, die nur als An-
       zeichen und Merkmale lebender vollständiger Wesen und als Schlüssel
       zu deren Erkenntniss Werth haben«.
           Die  Anschaulichkeit  dieser Erkenntniss war Taine 's  eifrigste
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