Page 688 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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576 Julius Zeitler.
Theorie ein einseitiges und unvollständiges Schema, sein Werk selbst
sprüht vollstes Leben, es ist das vielfältige Gewebe eines unendlich
verzweigten Gedankenreichthums,
Auf der Grundlage der Milieutheorie erwuchs die neue Auffassung
der Geschichte, die Taine in die Welt brachte, und mit der er
schließlich den wissenschaftlichen Realismus in Frankreich zur Herr-
schaft führte. Schon in der Vorrede zur Geschichte der englischen
Literatur stellte er Stufen der geschichtswissenschaftlichen For-
schungsweise auf und verbreitete sich über die niedere, wie über die
höhere Methode. Dem Ansammeln und der Kritik von Thatsachen
und Ereignissen stellte er die Zusammenfassung der typischen Reihen
in höhere Zusammenhänge gegenüber. Taine achtete bloße Stoff-
compilationen wenig; sie bedeuteten für ihn reine Vorarbeit gegen-
über der Hauptsache, der Erforschung der Ursachen. Die Ge-
schichte war für Taine ein psychologisches Problem: >Die Regeln
der menschlichen Vegetation zu suchen, die specielle Psychologie
jedes speciellen Gebildes zu entdecken, ist die Geschichtschreibung
jetzt berufen« (E. L. I. S. 30).
Mit mächtiger Geberde wies Taine auf die ursprünglichen
Quellen zurück, auf die alten authentischen Belege. Dennoch Heß
er seiner ganzen Geistesanlage nach den objectiven Quellen gegen-
über den subjectiven keine einseitige Ueberschätzung angedeihen.
Ihm lag vor Allem an der »psychologischen« Analyse der Texte.
Das eigentliche Arbeitsgebiet des Historikers sind nach ihm die
Rückschlüsse von den Handlungen, Thaten und Schriften auf die
Seele. Die Quellen sind keine unmittelbaren Zeugnisse über den
psychischen Zustand, der einer That vorhergeht; aus der Quelle muss
vielmehr erst der Thatbestand herausgeschält werden, aus diesem
erst können die psychologischen Rückschlüsse auf die Motive gemacht
werden.
So viel Werth Taine auf die Documente legte, er war doch
weit entfernt, ihnen eine absolute Bedeutung beizumessen ; man müsse
vielmehr die Menschen erkennen, die sie gemacht haben. »Sowohl
Muscheln als Documente sind leblose Ueberbleibsel, die nur als An-
zeichen und Merkmale lebender vollständiger Wesen und als Schlüssel
zu deren Erkenntniss Werth haben«.
Die Anschaulichkeit dieser Erkenntniss war Taine 's eifrigste