Page 687 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Taine und die Culturgeschichte.- 675
Ohnmacht oder Wirksamkeit. Es giht gewisse Zustände des öffent-
lichen Greistes, die dieses oder jenes litterarische Genre, diesen oder
jenen wissenschaftlichen Begriff ausschließen. Ist ein solcher Zustand
vorhanden, so werden sich die Schriftsteller und Denker vergehlich
mühen, etwas Anderes zum Durchbruch zu bringen, — es wird ihnen
nicht gelingen«. (E. L. I. S. 354.) »Alle Geister, welche suchen und
finden, sind in dem Strome; sie kommen nur mit ihm vorwärts;
wenn sie sich ihm entgegensetzen, werden sie aufgehalten; wenn sie
von ihm abweichen, werden sie gehemmt; wenn sie ihn fördern,
werden sie weiter getragen als die Anderen« (E. L. HI. S. 404). An
den Neubildungen der Cultur soll der Einzelne keinen Antheil haben.
»Jede Neugestaltung ist . . . das Ergebniss einer Veränderung der
geistigen und physischen Verhältnisse der Menschen, d. h. in letzter
Reihe: der die Menschen umgebenden Zustände und Lebensbedin-
gungen« (0. Vni. S. XV) ^). Natürlich trägt dann auch jede Gene-
ration ihre Zukunft und ihre Geschichte »unbewusst und im vor-
hinein« unweigerlich in sich (0. I. S. 332).
Die Theorie lässt dem Wirken des Einzelnen keinen Raum. Trotz
ihrer Unbedingtheit bleibt von jeder Individuahtät ein Rest, der aus
Rasse, Miheu und Zeitpunkt nicht abgeleitet werden kann. Das Ver-
hältniss zwischen dem Einzelnen und der Umwelt ist ein solches der
Wechselbestimmung; der Einzelne aber wirkt jedenfalls auf seine
Umgebung verändernd zurück. Durch eigenes Handeln vermag die
einzelne PersönHchkeit ihre Umgebung zu beeinflussen, indem sie >theils
die vorhandenen Tendenzen verstärkt, theils die Umwandlungen der-
selben vorbereitet« 2). Der MiHeutheorie gegenüber weist Wundt
auf die Wichtigkeit der »Untersuchung des Verhältnisses der füh-
renden Geister zu den allgemeinen geschichtlichen Entwicklungen«
hin. Ueberhaupt wird die Milieutheorie erst dadurch für die histo-
rische Forschung fruchtbar, dass von ihr aus die wechselseitigen Be-
ziehungen, die zwischen den Theilen einer Gesammtcultur walten,
aufgehellt werden können, und dass das Verhältniss, in dem gewisse
typische Persönlichkeiten zu jenem Gesammtzustand stehen», nach-
gewiesen werden kann. Glücklicherweise gab Taine nur in seiner
1) H. Taine, Entstehung des modernen Frankreich (Origines-O.).
2) Wundt, Logik. H. S. 411.
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